Christian Lorenz Müller

BESUCH VON EINER FERNEN INSEL

Die Poesie wohnt in Thule,
sie hat ein kindliches Lachen,
sie graviert Algen mit Stecknadeln
auf Aquarellpapier
und baut sich ein Boot,
das sie auf der Schulter tragen kann.

Die Poesie genierte sich früher
für ihre verschwielten Hände,
für den Kartoffeldreck
unter den Fingernägeln
und die Kälteschrunden, die entstehen
wenn sie im Winter Fisch ausnimmt.

Reist sie aufs Festland,
liegen zwischen den Seiten
ihrer mitgebrachten Bücher
getrocknete Wellen, jedes Umblättern
ist ein Flossenschlag.
Auf Empfängen trägt sie stets
den Frack des Meeres, den Neoprenanzug.
Niemals nimmt sie
Cocktailglas und Strohhalm in die Hand,
immer sind es die Taucherbrille, der Schnorchel.

Wenn sie abreist, fallen die Flure trocken,
die Einsiedlerkrebse in den Hosentaschen
verwandeln sich zurück in Zimmerschlüssel
und alle Metaphern verschließen sich,
muscheln nicht länger
offen in der Sonne.

für Miek Zwamborn

10. Oktober 2019 10:39










Julia Trompeter

IDIOS

Einem gleicht er wohl.
Wem gleicht er, fragst du.
Wem wohl, dem, der fragt
gleicht er, denn gleich
& gleich gesellt sich gern &
gern & gern gesellt sich gleich.
Das Gleiche ist immerzu gleich,
oder das Selbe.
Wem selbt er dann?
Nur sich selbst selbt er,
nicht dir oder mir, denn
deine sind nicht deine
Söhne & Töchter der Sehnsucht usw.
Also wem gleicht er nun, dieser Selbe,
oder ist er gar sich selbst nicht gleich?
Wem gleiche ich & bin ich die Selbe
wie er, der Fluß, in den ich steige.
Dieser Selbe, der sich mir entselbt.

8. Oktober 2019 19:20










Christine Kappe

Zum Glück gibt es noch Vogelhändler

Heute – wir kauften Mäuseheu – erzählte er wieder Geschichten
Über zu dreckige Vogelkäfige
Deren Annahme zur Pflege er verweigerte
Und über das Verbot Tauben zu füttern
Über das er sich genauso hinwegsetzt wie wir
„Das sind doch Geschöpfe wie wir auch
Die muss man mit Würde behandeln
Die Menschen sind nur neidisch, weil sie selbst nicht fliegen können
Aber ich kenne keinen Neid.“
Habe so mit ihm übereingestimmt!
Man freut sich doch aneinander
Er erzählte, wie er als Kind schon Tauben liebte
Weil sie so elegant auffliegen im Schwarm
Dann zeigte er uns ein Kanarienvogelnest mit 3 kleinen, bunten Eiern
Sah fast unwirklich aus, wahrscheinlich weil wir soetwas noch nie gesehen hatten

(work in progress: „Vögel und Städte“)

3. Oktober 2019 01:47










Hendrik Rost

Vielleicht Vogel, vielleicht Süden

28. September 2019 07:26










Björn Kiehne

Wir hören den Wind

Die Pappel im Hof
rauscht wie das
Meer,
aus dem Himmel tropft
Blau.

Wir sitzen einander
gegenüber,
ich,
ein Archiv
unveröffentlichter
Geschichten,
du,
der Reiseführer
in eine unsichtbare
Stadt.

Wir fragen uns,
wie viele Menschen
wohl jetzt
wie wir
in der Küche sitzen,
den Herbst einsammeln,
in die Fensterbank legen,
sodass das Licht
mit ihm spielen kann

27. September 2019 11:03










Christine Kappe

Sieh es mal so

Wir sind Wirsing – Wirsing ist Liebe
Wir sind für alle da
Wir-singen-Liebe
Wir sind die Buchstaben dort auf der Wand
Wir sind der Briefkasten:
Der Brief ist die Liebe
Wir sind nur Buchstaben
Die leuchten, wir schlafen
Wir grünen, die schwärzen
Wir wünschen, sie wechseln und wenden
Wir fühlen – sie enden

23. September 2019 07:22










Hendrik Rost

Parolen als Platzhalter

„Wirsing ist für alle da“ –

an einer Hauswand

„Wirsing ist Liebe“ –

auf einem Briefkasten

 

Hamburg, September 19

 

 

 

 

22. September 2019 07:32










Tobias Schoofs

SANTIAGO

ein freilicht-museum für ortho
pädie man grüßt mit der krücke

wie geht es? der reinste zynismus
man bekommt eine ganz neue sicht
aufs aua aufs leben auf aua die füße

das wort blase geht um wie die pest
und foot massage ist thema nummer
eins in der schlange am fahrkarten

schalter nächstes jahr knieschaden
in fátima? geh mir weg du christ!

20. September 2019 17:52










Hendrik Rost

Idiom

Meine Freunde sind Idioten
geworden. Ich bin mit Idioten
verwandt, meine Feinde sind
Idioten. Was für ein Segen
für Idioten wie mich, sich nicht
mehr verstecken zu müssen.

16. September 2019 07:19










Christian Lorenz Müller

AUS DEM PERSONALBÜRO EINES POETEN

Das Nomen
Sitzt hinter seinem Schreibtisch, steht an seiner Werkbank über die Jahre. Setzt gerne Fett an, wartet gutmütig und träge bis zu seiner Pensionierung oder vorzeitigen Entlassung. Adjektive zaubern ihm Farbe ins Gesicht, Verben bringen es ein paar Sätze lang auf Trab.

Das Adjektiv
Ist oft zu konventionell oder viel zu schrill. Hat die Angewohnheit, sich sofort dem stärksten Nomen um den Hals zu werfen, ganz besonders dann, wenn es paarweise oder in Gruppen auftritt. Trotzdem absolut unentbehrlich. Ein, zwei originelle Adjektive, und alle anderen Wörter lockern die Krawatten, lächeln und gehen gerne wieder ihrer Arbeit nach.

Das Verb
Kann keinen Moment lang stillsitzen. Hält die Hauptwörter in ständiger Bewegung, vertreibt die Adjektive vom Kaffeeautomaten. Sorgt unnachgiebig dafür, dass eine angefangene Sache bis zum Punkt kommt.

Das Adverb
Unscheinbar und bedürfnislos. Assistiert dem Verb bis zur Selbstverleugnung. Tritt kaum jemals in Konkurrenz zu seiner lauteren Kollegin, dem Adjektiv.

Die Konjunktion
Zeigt keinerlei Eigeninitiative. Wird nur dann lebendig, wenn es etwas zu verkuppeln gibt.

Die Präpositionen
Ungeliebte Laufburschen, die oft an der falschen Stelle stehen. Werden meist sträflich vernachlässigt. Erhalten sie nur ein wenig Aufmerksamkeit, tun sie klaglos ihren Dienst.

Die Interjektion
Riecht nach Heu und nach Mist. Abstrakte Begriffe rümpfen in ihrer Gegenwart die Nase; alle anderen Wörter erinnern sich wieder daran, woher sie kommen.

14. September 2019 11:36










 1 2 ... 4 5 6 ... 204 205