Gerald Koll

Auf den heutigen Tag vor dreißig Jahren …

… geben um eine halbe Stunde nach zehn Uhr Spielmannszüge des schleswig-holsteinischen Landes auf der „Frahmkoppel“ genannten Anlage des Gettorfer Kleingartenvereins ein Platzkonzert zu Ehren des hundertjährigen Bestehens des Gettorfer Turnvereins. Sternmarsch! Er mündet auf dem Schulhof der im Park befindlichen Grundschule und eskaliert in einem Großkonzert.

27. Mai 2019 08:19










Tobias Schoofs

WAS NICHT GESCHIEHT

sie ruft an
der cafébesitzer gibt ein bier aus

der nachrichtensprecher meldet
prince und david bowie seien nicht tot

da liegt ein brief auf dem tisch
von meinem ebenfalls unverstorbenen vater
er habe es nicht mehr ausgehalten sagt er
da (also hier) im absurden europa

dieser schrecklichste aller innenminister
tritt endlich zurück – einfach so

ich höre auf zu rauchen
ich sage nein danke zum bier
das der cafébesitzer mir hinstellt

das telefon klingelt

17. Mai 2019 14:24










Andreas H. Drescher

DER FADEN (Kapitel aus dem Roman „Kohlenhund“)

Die Befriedigung, die ihm das Knacken der trockenen Zweige und Tannenzapfen unter den Füßen verschafft. Der Blick durch die Lichtmulden in den Baumkronen. Von Helligkeit aufgelöst selbst die Vögel in den Zweigen. Nur ihr Gesang übrig. Wechselnde Töne. Das setzt noch einen Raum in den Raum. Dann wieder ein Knacken, grundlos scheinbar, zwischen den Stämmen. Schließlich die winzige, lichtgelbe Raupe vor ihm. Sie windet sich, spinnt ihren Faden. Unsichtbar, sichtbar, unsichtbar. Lange steht er da und sieht das an…WEITERHÖREN

15. Mai 2019 06:20










Andreas Louis Seyerlein

~

Wenn ich das Wort Schreib­ma­schi­ne höre, den­ke ich an Lebe­we­sen mei­ner Kind­heit, an Krea­tu­ren mit Wal­ze und Tas­ten, die merk­wür­di­ge Geräu­sche erzeug­ten, sobald man sie beweg­te. Was waren das damals doch für Unge­tü­me, Knöp­fe auf Stel­zen so groß, dass sie von mei­nen klei­nen Fin­gern kaum bewegt wer­den konn­ten. Hoch oben auf einem Tisch­chen ruh­te die Schreib­ma­schi­ne, manch­mal war sie ver­bor­gen unter einer Hau­be, dann wie­der klap­per­te sie. Mut­ter saß am Tisch und tipp­te vor sich hin. Von Zeit zu Zeit setz­te sie mich auf ihren Schoß und ich sah ihren Fin­gern zu, wie sie sich beweg­ten, indes­sen Mut­ter mit mir sprach oder dem Radio zuhör­te. Ich glaub­te manch­mal in den Bewe­gun­gen ihrer Hän­de, etwas Frei­es, Unab­hän­gi­ges zu sehen, als wären die Hän­de mei­ner Mut­ter eigen­sin­ni­ge Lebe­we­sen. Wie nur nennt man die­se Ver­rückt­heit, dass einer gern Bücher auf einer Schreib­ma­schi­ne tippt, anstatt sie zunächst nur zu lesen, wie einen, der nur lesen kann, was er auch schreibt mit den Hän­den? — stop

> particles

13. Mai 2019 20:53










Mirko Bonné

Sommertag in Hundsmühlen

Schreiend liefen wir zum Fluss hinunter.
In meiner Erinnerung stößt der Rasen ans Ufer,
und da war ein Steg. Wir rannten
durch den Garten
auf die Planken und sprangen
aus der Sommerhitze in das kalte Wasser.
Es war braun. War stark und schnell.
Die Hunte griff uns um die Beine.
Ich weiß noch, meine Arme,
das Rudern, um am Steg zu bleiben.
Und er zog an mir, der Fluss drückte mich
weg, in das späte Sommerlicht hinein. Aber
schreiend lief ich wieder hinunter zur Hunte.
Und neben mir schneller rannte mein Bruder.
Da war das Gras. Und ich spüre es noch.
Der Fluss der Freund den Nachmittag.
Die Magnolien da. Ein Duft nach Majoran.
Immer wieder schwamm ich zu dem Steg zurück.
Und unsere Großmutter kam und saß mit uns im Gras.

Für Stephan Bonné

*

8. Mai 2019 14:00










Tobias Schoofs

EINS

wenn wir alle eins wären
gäbe es kein tschüss und
keinen guten tag es gäbe

wenn wir alle eins wären
keinen guten morgen kein
hallo keine gute nacht es

gäbe wenn wir eins wären
kein vermissen nichts wir
wären nie getrennt es wäre

wenn wir eins wären keiner
da wir wären wenn wir eins
wären einfach alle eins es

gäbe wenn wir eins wären
kein auf-wiedersehen auch
kein lange-nicht-gesehen

27. April 2019 19:29










Christine Kappe

Sogno

Er will nach Deutschland, sagt er
„Bayrische Motorenwerke!“
zeigt uns einen Prospekt mit Motorrädern
die sich bei uns kaum jemand leisten kann
„Sogno?“
„Realta!“, beteuert er
Sein Chef beschimpft ihn und treibt ihn zur Arbeit an
Er aber schleicht sich immer wieder zurück an unseren Tisch

Nicht der Wind rüttelt am Fenster, sondern der Verkehr
Vorm Petersdom überfährt eine goldene Lok einen kriechenden Soldaten
Ein Hund bellt irgendwo
In den Geschäften stehen statt Kunden nur Angehöre herum
Ein Mädchen mit Gummistiefeln und kurzem Rock zum Beispiel
läuft an uns vorbei in die dunkle Gasse
Ein Mann mit Pistole
gibt uns zu verstehen, dass hier gleich geschossen wird
Und du
mit hochgekrempelten, weißen Hemdsärmeln
verschwindest koffertragend im labyrinthischen Gangsystem des düsteren Hotels und schaust dich nicht um

25. April 2019 09:11










Christian Lorenz Müller

EIN SCHREIBKRISEN-GESPRÄCH

Zantner: Mit meinem neuen Roman komme ich gut voran. Die beiden Kunsthistoriker kurven mit der gestohlenen Statue im Kofferraum durch Norditalien. Einmal übernachten sie unter freiem Himmel. Sie können erst einschlafen, als sie die Madonna vor ihr Zelt stellen.

Abel: Das hört sich regelrecht nach Urlaub an. Ich arbeite immer noch an diesem Gedichtzyklus – das heißt, im Moment arbeite ich nicht. Ich kann nicht arbeiten. Die Wörter zerfallen mir zu Silben, zu Buchstaben, und ich weiß nicht mehr, wie ich sie verwenden soll.

Zantner: Das wird schon wieder. Nach ein, zwei Wochen kommt man wieder in Schwung, zum Beispiel, wenn man neue Ideen hat. Meine Protagonisten transportieren die Madonna zuerst im Kofferraum. Dann liegt sie auf der Rückbank, und schließlich steht sie stundenweise aufrecht und angeschnallt auf dem Beifahrersitz und sie fragen sich scherzend, wann sie das Steuer übernehmen wird.

Abel: Ich komme mir seit Monaten vor wie ein Schreinerlehrling, der das erste Mal in eine Werkstatt betritt. Er sieht die Werkstoffe und das Werkzeug, aber er hat noch keine spezifische Bezeichnung dafür. Er sagt nicht: Vollholz, Dreischichtplatte, Pressspan, Sperrholz, Furnier. Und ich sage nicht: Hauptwörter, Verben, Adjektive, Präpositionen. Ich sehe nur die Sprache und komme mir anfängerhaft und linkisch vor.

Zantner: Ach Gott, das Leiden an der Sprache! Kokettieren Sie nicht ein bisschen damit?

Abel: Haben Sie schon einmal einen Schreinerlehrling erlebt, der eitel herausstellt, dass er ein Eichen- nicht von einem Buchenbrett unterscheiden kann?

Zantner: Ich hatte eigentlich geplant, dass die beiden Kunsthistoriker eine Giacometti-Statue klauen. Sie kennen bestimmt diese anorektisch-langen Figuren. Sie sind ganz unverwechselbar. Trotzdem hat der Roman damit nicht funktioniert. Ich wusste nicht warum, ich habe wochenlang überlegt, woran es liegen könnte.

Abel: Und als Sie draufgekommen sind, ist die Krise vorbeigewesen?

Zantner: Genau! Die Giacometti-Statue war zu abstrakt für meine Geschichte. Die Marienfigur hingegen ist über die Jahrhunderte kulturhistorisch aufgeladen worden und löst auch bei Leuten, die eigentlich nicht religiös sind oder keinen Bezug zur bildenden Kunst haben, Emotionen aus.

Abel: Schreinerlehrlinge brauchen zwei, drei Jahre, bis sie sich mit Material und Werkzeug vertraut gemacht haben. Wenn sie ihre Lehrabschlussprüfung gemacht haben, dürfen Sie sich Gesellen nennen. Meister sind sie noch lange nicht.

Zantner: Ende August gebe ich mein Romanmanuskript ab. Dann mache ich erst mal Urlaub. Ich schaue mir die Gegend, durch die meine Helden mit der Madonna gereist sind, noch mal in aller Ruhe an. Wollen Sie mitkommen? Wir könnten uns zwei schöne Wochen machen.

Abel: Danke für das Angebot. Ist ihre Madonna eigentlich aus Holz oder ist sie aus Stein?

Zantner: Aus Holz. Birnbaumholz, um genau zu sein. Geschlagen um 1530 in der Nähe von Perugia.

Abel: Birnbaumholz. Ein schönes Wort. Damit könnte man etwas anfangen.

Zantner: Na sehen Sie. Es wird schon besser. Bald werden Sie das Eichen- wieder vom Buchenbrett unterscheiden können. Kommen Sie mit nach Italien. Das wir Ihnen sicherlich guttun.

 

18. April 2019 08:35










Karin Fellner

Scharf leuchten Überreste von Werksgeländen, eine

Schwalbe im Sinkflug ruft: Nehmt das Kopfblueten an!

 

Mineralischer Mittag, schon sehen wir nicht mehr scharf,

sehn schon umami und bitter.

 

Werden Sprechapparate auch künftig in Wesen montiert sein? frag ich.

Und du: Wenn wir erfahrener wären im Bitteren, dann …

 

Erzähl doch bitte noch einmal, wie auch das Licht ermüdet,

wenn es vom Boden auf und gegen die Gravitation fliegt!

 

Die auf den Index gesetzte Sonne leuchtet uns

fort

 

(aus dem eben erschienenen Band „eins: zum andern“, parasitenpresse Köln 2019)

18. April 2019 08:17










Julia Trompeter

trauringe augen, motten unter achseln
oder andere bilder, die man im album, das weiß bleibt,
nicht sieht, denn: diese hochzeit bleibt geheim.
was? ein geheimnis, eingeheimst von der kosmetikindustrie
und dem feuchten traum eines jungen. mädchens. noch fast kinder.
man sollte nicht zu früh anfangen mit dem vergessen, doch was,
wenn es nichts zu erinnern gibt, nichts außer dem ersten kuss,
der ein versehen war unter alkohol, ein versprechen (oh, pardon!),
ein vers ohne icherung, eben wie das leben so spielt,
wenn man es von hinten aufrollt, teenie, der es
in den ersten jahren war, und wert es zu probieren

16. April 2019 17:07










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