Begrenzungen
1
»Das Leben – Es ist ein Traum, eine Seifenblase, eine Glasscherbe, ein Eisblock (...); es ist ein Punkt, eine Stimme, ein Klang, ein Lufthauch, ein Nichts.«
Roberto Donetta (1865–1932), Tessiner Fotograf und Samenhändler.
Ich fühle mich oft ausgegrenzt. Und eines meiner Grundprobleme schon seit der Kindheit ist das Gefühl nicht willkommen zu sein. Das arbeitet an mir. Dabei führt es mich oft an eine Stufe, an der klar ist, daß es so wie bislang nicht weitergehen kann. Ich erkenne dieses dunkle, gemeine Gefühl wie eine Hürde mit Wassergraben, und indem ich es erkenne, erkunde ich schon einen Umweg, denn ich scheue den gewagten Sprung, aus dem Fett in meinen Klamotten heraus, aus dem Staub und dem gewalzten Bett.
Könnte ich sagen, was ich denke, in die graue Wolke des Moments hinein. In das Risiko der Stille. Könnte ich mich überwinden! Aber ich will unsichtbar bleiben, nicht mit Blicken beprüft werden – ich setze mich im Schneidersitz in die Ecke und beobachte: daß ich unglücklich bin und trotzdem glücklich. Daß ich nicht aufstehen muß und tanzen, um zu tanzen. Daß es Umwege gibt. Ich beginne in meinem Kopf zu schreiben. Es gibt für mich ein Mikrofon.
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„So kann beispielsweise das Nicht-Ich gesehn, gehört, befühlt werden. Sein Dasein (das nämlich des Ichs, Anm. FM) ist, daß es weiß, nicht daß es gewußt wird.“ F. Max Müller (in: Three lectures on the Vedânta Philosophy. 1894)
Ich weiß nicht wo meine Grenze ist, etwas wo ich ende. Es passiert – aus mir heraus und in mich hinein. Selbst aus der Sicht meines Körpers tausche ich mich stetig aus, atme, schmecke, stoffwechsle, bin besiedelt. Diese simplen Tätigkeiten sind nicht von mir begrenzt, sondern haben sich eingefunden und mich, wie es atmet, stoffwechselt und besiedelt ist, erfunden. Ausdifferenziert (um nach Derrida zu deuten, der von „einer Schickung zu sich selbst“ spricht). Und diese Differenz zeigt sich nicht als Grenze, Existenz ist nicht abgegrenzt, sondern immer geantwortet, geschuldet und sogar verantwortet, verschuldet. Existenz ist gewachsen und nicht aus dem Hut gezaubert oder angepflockt und ans Kreuz genagelt (wie es der unmögliche Heidegger denkt), sie ist Kreation entlang von Grenzen, Spiel mit Grenzen und so: eine Kreatur der Überwindung.
Was der Darwinist als „Auslese“ sieht, ist für mich eher ein Problem der Auslesung: wie kann ich etwas erfahren, wie kann ich „mehr“ oder „stimmiger“ erfahren. Welches Lesen kriege ich hin und wo scheitere ich. Das geht vom Rezeptorischen bis ins Persönliche: welche Erfahrungskonstellationen, welche Vorurteile begrenzen meine Sicht und die Arbeit meines inneren Gespenstes, das zusammenklabustert und -strickt und als Geistgeschehen mich beeinzelt. Auf welche Weise kommen Objekt und Subjekt der Betrachtung zusammen? Dabei geht es nicht um das Auslesen von Komplexität, die wir selbst erzeugt haben, und auch nicht mehr nur um Komplexität, die den Moment erzeugt. Es geht also nicht um Fahrpläne und Videospiele, Computerprogramme und Formel Eins.
Ich merke, wie ich wechseln muß: es muß ein anderes Ich hier weiterschreiben, es muß von sich abrücken. Es muß aus dem Subjekt/Objekt ein Projekt werden: die Sorge um den Fortbestand der Welt. Welche Welt soll wie fortbestehen?
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Es geht um Komplexität jenseits der von uns gelebten Zeiträume und damit um die Erkenntnis, dem Formen der Welt ein Fenster aufzumachen, in dem die eigene Anschauung und Perspektive, dasjenige verändert, was es sieht. Das Ja zu einer eigenen Welt formt den Planeten und ist eine Kraft, die ausdifferenziert und dabei Formexistenzen bedroht und verändert und häufig auch vernichtet. Es geht um die Erkenntnis als human being selbst geologisch wirksam zu sein, mit der eigenen Zeit in die Tiefenzeit der Weltvorgänge hineinzureichen. Der geological turn zeigt die Notwendigkeit eines Denkens, das unsere Zeitspannen verlässt und die Wirksamkeit von Kräften in den Formwahrheiten wiedererkennt, die in geologischen Altern wachsen. Die befragende Hinwendung zur Erdgeschichte, zur planetaren Sicht, betrifft dabei nicht nur das Ausbeuten fossiler Brennstoffe, sondern auch die Erforschung der komplexen Wirkverhältnisse, die bspw. einen „steinernen“ Stromatolithen entstehen ließen, der als mikrobengetriebener Sauerstoffreaktor wesentlich zur Umwandlung der lebensfeindlichen Uratmosphäre in eine lebensfreundlichere beigetragen hat – dort gibt es Zusammenhänge zu erkennen, die vom einfachen Mikrobendasein direkt zu uns und unseren Computern und allen Vorgängen, die uns genau dieses Jetzt ermöglichen, führen.
Die Frage stellt sich mir unentwegt (sie klebt wie eine Klette am Bein des Poeten), wie kann ich als Künstler/Schreibender einen Verweis in den geological turn geben, wie lenke ich den Betrachter ans größere Fenster und in die „Intimität von Steinen“ (nach Jeffrey Jerome Cohen). Wie kriege ich den Momentverliebten zurück in das Denken der Dauer ohne das Jetzt aufzugeben? Mit einem Fotoband der National Geographics und dem Zauber geologischer Landschaften im Hochglanzformat? Welche Mittel gibt es, in der gewünschten Tiefe zu kitzeln?
Der Poet sagt: nicht mit einer Poesie, die davon redet. Bitte instrumentalisiere sie nicht. Und so stecke ich in der Klemme und krümme mich in Texten auf der Suche nach einer Balance.
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Ich weiß es nicht und muß jetzt ins kompaktifizierende wir wechseln. Ich habe das Gefühl, daß wir es noch nicht einmal schaffen, unsere eigenen Begrenzungen als solche zu erkennen und daß wir – ganz allgemein - anstreben sie zu pflegen, anstatt sie zu überwinden. Man nutzt zielsicher Big Data, um Bubbles maßzuschneidern und gewinnt so einen eingegrenzten, manipulierbaren User. Er ist eine aus Informationsmustern herausdifferenzierte Person, ein Stein unter Steinen.
Wenn Philosophen über Existenzen nachdenken, dann neigen sie dazu, korpuskular zu betrachten, Körper gegen Körper, Körper gegen Nicht-Körper, Sein gegen Seiendes oder gegen das Nichts. Nancy sagt: „Die einzige Eigenschaft des Eigenen, des Eigen-Seins, des Selbst, des Eigentlichen, das ist seine Grenze, seine wohlgezogene Kontur.“
Das sind die einfachsten aller Grenzen (und da stimmt etwas vom Prinzip her nicht: Differenz und Form sind fast immer Antworten und nicht Gebote). Die Eigenschaft des Eigenen ist nicht seine Grenze, sondern die Art wie er mit ihr arbeitet, auf welche Weise er sich einweltet, also offen und zugänglich zeigt. Außerdem: Die meisten Grenzen, die ich kenne, sind nicht „natürlich“ im Sinne von nachvollziehbar korpuskular, sondern menschengedacht und kulturell gesetzt. Und wir erschaffen Grenzen dadurch, daß wir andere überschreiten. Das Potential als Mensch und Lebensartist Weltinhalte zu dominieren wirkt strukturell.
5
War es nicht so, daß zuerst der überhungrige Westen Grenzen überschritten hat, Begrenzungen übersehen, neue Grenzen gesetzt hat, bevor überhaupt Menschenmassen auf die Idee kommen konnten, die arabische oder afrikanische Heimat zu verlassen.
Globalisierung zeigt sich könnenseuphorisch und in seinen Auswirkungen bis in fernste Atolle. Sie entgrenzt alles und jeden, ihr Zugriff geschieht ohne zu fragen. Sie greift dabei in einer Korngröße ab, die sehr einseitig die Ausweitung der Lebenserleichterungschancen der Menschen der Industrienationen anvisiert und erfährt von der Welt das in diesem Sinne Nutzbare. Als Objekt bewertet, wird der Globus in die eigenen Zwecke eingemaßt, in den Nutzen für das Selbstdesign des Westens, und man überschreitet dabei jegliche lokalen Grenzen, überschreibt existenzielle Gültigkeiten. Wenn eine syrische Familie vor Faßbomben flieht, dann deshalb, weil man ihr die Grenze des Existierens bedroht - der natürlichste und vernünftigste aller Reflexe: wo die Existenz zum Glücksspiel wird, macht es keinen Sinn zu bleiben. Wer immer dafür sorgt, daß Menschen fliehen müssen, um überleben zu können, der ist auch verantwortlich für die Folgen der Fluchtbewegung.
Da der Westen wesentlich und ursächlich in die Geschehnisse im Irak und damit auch in jene im IS-überrollten, destabilen Syrien historisch verwickelt ist, ist er auch verantwortlich für Menschen, die fliehen. Verantwortung ist als globaler Player und als Nutznießer der Globalisierung nicht durch geographische Entfernungen begrenzbar.
Man kann nicht entgrenzt leben und hernach begrenzt verantworten. Wenn der Volkeswille seine Hosen inIndien schneidern lässt und seine Rosen in afrikanischen Gewächshäusern züchtet, dann ist dabei gefragt, das auch zu verantworten. Auftragsmord sozusagen. Verantwortung ist auch dort, wo jemand sich in seinem smartphone Kichervideos reinzieht, und null, wirklich null Vorstellung davon hat, was dieses smartphone in seinen Händen wiegt und für was es ihn existenziell und tatsächlich in die Verantwortung nimmt. Ich habe ein Problem mit unterkomplexer Dumpfheit – nicht, weil ich jemandem Schadenfreude oder krampflösenden Humor nicht gönne, sondern weil die Onanie des Westens den ganzen Planeten vollsifft. Wenn man das unter Globalisierung versteht, dann sind entgrenzte Reaktionen der vom Westen entgrenzten Menschen vorprogrammiert und: nirgends eingepreist. Ein Internetriese, der am Kichern verdient, zahlt nichts für die verseuchte Umwelt, die die Gewinnung seltener Erden hinterläßt und verdient sogar an Klicks auf Enthauptungen.
6
Ich stelle mir vor, wie ein realistisches Preissystem, das alle Folgen einer Kreation berücksichtigt, alle Bewirkungen versucht einzugrenzen und miteinzurechnen, die Kosten für die meisten unserer Produkte auf astronomische Summen auflaufen ließe. „Das kann sich doch kein Mensch leisten“ wäre plötzlich eine vernünftige Antwort und vernünftige Verantwortung wäre plötzlich wieder gefragt. Wir sind in einer Welt der falschen Preise unterwegs und verbilligen so den umfassenden Weltverbrauch. Flüchtlinge? - nicht eingepreist. Entgrenzte Welt gilt ohnehin nur für Geldbesitzer. Man zahlt dabei nur für das Rechenbare und rechnet nichts mit, das nicht bepreisbar ist.
Ein schöner schmutziger Trick, der unzähligen Menschen das Leben kostet und aus uns Menschen Schurken macht, die nicht einmal wissen, daß sie Schurken sind. Es ist der Eindringling der Schurke, der mir ans Geld will, es ist der Immigrant der Spielverderber, der mir die wahren Preise zurück ins Gedächtnis holt. Der Asylant begehrt Raum von meinem Raum, Geld von meinem Geld, Glück von meinem Glück. Dabei hat er genau das bereits an uns gezahlt, Raum von seinem Raum, Reichtum von seinem Reichtum, Glück von seinem Glück, er hat sich ausbeuten lassen und Dinge ertragen, die niemand von uns würde ertragen wollen. Sein Investment liegt längst vor und nun fragt er nach Gerechtigkeit, gleichem Recht für alle, Menschenrecht und es hört sich für die Wutbürger an, als überschreite er damit eine Grenze.
Es ist die Maßgabe der Brüderlichkeit. Die alte Verlautbarung „alle Menschen sind Brüder“ wurde gekündigt. Wer mein Bruder ist, bestimme ich selbst. So wie der Priester in der Kirche seine Gemeinde als „Brüder und Schwestern“ anspricht, so ist man Teil dieser oder jener Netz-Gemeinde, die ihre Privatreligion vor sich hin zelebriert. Man ist verbrüdert/verschwestert nicht dem Menschen, sondern dem, was er draus macht. Und dieses Machen setzt die Limits entlang denen Zugehörigkeit sich definiert. Machen, das Kenntnisse fordert und Können. Wie schminkt man nude und wie tanzt man shuffle? Das sind Fragen.
Und dann steht da jemand mit einer ganz anderen, fremdartigen Frage: wie gehe ich mit all den Verwüstungen um? Jemand, dem sein Haus samt Familienangehörigen zusammengestürzt, dem alles Abgrenzbare abhanden gekommen ist. Komm nude schminken und Schuffle tanzen nutzt da nichts. Mit diesem „Eindringling“ in die (grundmotivisch nur oberflächlich einstimmige) Großblase „Volk“ stehen plötzlich Fragen an, die niemand hören will, vielleicht auch, weil niemandem mehr die korrekten Antworten dazu einfallen.
Ja, könnte er deutsch und hätte ein smartphone, aber so .... Wir wollen diese Fragen nicht, die uns daran erinnern, wie weit wir uns vom „eigentlichen“ (siehe Nancy) Leben und seinen „alten“ Begrenzungen weg bewegt haben. Unsere Begrenzungen sind heute so verschoben, daß ein nicht ähnlich Begrenzter auf nur wenig Verständnis und Nächstenliebe hoffen darf. Er ist anhand seiner Lebensgeschichte und Lebenssituation nicht kompatibel. Er ist vielleicht jung und gesund, gutaussehend noch dazu – aber er muß erst mal verstehen „modern“ zu leben und „modern“ zu sein. Eine hochkomplexe Anforderung, die nicht nur verlangt die eigene Tragödie so zu überwinden, daß man in eine Spaßgesellschaft passt, sondern so viele „kulturelle Nachbesserungen“, daß gelungene Sozialisationen Jahre dauern müssen.
Es ist schlicht so, daß sich viele Wutbürger diese Mühe einfach nicht geben wollen. Die Politik hat uns da einen Haufen Arbeit auf den Tisch geknallt. Ganz entgegen dem, was „die Politik“ doch für uns tun soll - nämlich Erleichterung sicherstellen und mehren. Man ist selbst noch mit sich beschäftigt die ganze Modernität hinzubekommen und sich mit der eigenen sozialen Situation zu arrangieren, da kommt der dunkle Muselmane und stört. Es gibt nun Menschen mit elementareren Sorgen, und damit eine neue Disproportion des staatlichen Kümmerns, die Neid entfacht.
Es ist zu vermuten, daß ich Recht habe mit dieser billigen Schilderung. Dann wäre die grassierende Ausländerfeindlichkeit eine Reaktion aus der trägen Mitte unserer Gesellschaft und kein Monster von rechts. Und dann hätte man auch eine richtige Adressierung: nicht der Flüchtling scheitert, sondern unsere Gesellschaft, ihr zentrales Fett, scheitert – deshalb macht ein Satz wie „Wir schaffen das!“ durchaus Sinn, er verlangt Veränderung auch vom Normalbürger und war gedacht, ihn dabei optimistisch zu stimmen.
Da der Satz das Wie verschweigt, will er erstmal verstanden werden. Und da er alle mitnimmt ins Wir, schließlich von jedem Einzelnen. Das Wir hebt die Begrenzung auf, indem es sie weit fasst: inwiefern wäre ich nicht Wir? Und noch weiter gefasst: Bin ich am Ende genauso einzeln wie der geflohene, heimatlose Mensch? Schuldlos und ungefragt existierend. Teile ich mit ihm nicht den Fakt der Existenz – immerhin das Dasein – und welches Recht hätte ich, ein Dasein ins Wegsein zu denken, in die Nicht-Existenz hinein, wenn nicht ausschließlich ein existenzielles, also ein das eigene Überleben sicherndes.
Alles andere läßt sich lösen, entknoten, aufklären. Auch wenn viele Wohlständler im Teppichflicken ungeübt sind, es ist eine große Chance aus einer verknoteten Gesellschaft etwas substantiell Offeneres zu machen und damit vielleicht schon den Grundstein zu legen, daß Migrationsbewegungen, wie wir sie jetzt erleben, nicht mehr sein müssen in einer Zukunft, die auf Entgrenzung deshalb verzichtet, weil es in ihr keine mißachteten Grenzen gibt.
7
Hier taucht die Frage auf, wie man eine Begrenzung überwindet.
Ganz sicher nicht, indem man sie ignoriert. Man muß, um vom Wasser an Land zu gelangen, lernen was Land ist, man muß seine Rezeptoren anschalten und wahrnehmen, man muß sich bereit zeigen in der eigenen Begrenzung. Vor jeder Überwindung kommt die Betrachtung und je nach Klarsicht und Befähigung glückt der Schritt. Vereinfacht gesprochen: man braucht das richtige Schuhwerk und den geeigneten Tritt. Wir selbst müssen unsere Grenzen und Entgrenzungen besser kennenlernen, Übertritte im Blick haben, Schritttempo und -weite. Grenzen können wir erst wirklich überwinden, wenn wir uns befähigt zeigen dank guter Kenntnis. Jegliches Überrollen zerstört Grenzen und huldigt dem grundsätzlichen Irrtum, man könne kriegerisch und zu eigenem Vorteil Grenzen verschieben. Eine zerstörte Grenze ist prinzipiell immernoch da und jede Form der Verwüstung macht ihre Überwindung nur noch schwieriger.
Es klingt fast unlogisch: Eine Grenze lässt sich am zuverlässigsten überwinden, indem man sie respektiert und akzeptiert.
8
„Der Traum ist der Träger der tiefsten menschlichen Bedeutungen nicht, indem er deren verborgene Mechanismen und unmenschliche Räderwerke aufdeckt, sondern im Gegenteil: indem er die ursprünglichste Freiheit des Menschen ans Licht bringt“ Michel Foucault
Der Traum setzt einen peak in die Fläche, er vermittelt in die Höhe.
Ich bin zurück bei mir. Wenn ich meine Hürden kenne, kann ich sie nehmen. Der Meister im Umgehen kommt nicht drumrum. Er muß in die Vertikale. Oder er bleibt ein Träumer.
Was wäre gewesen wenn.
Auf diese Weise bin ich zum Träumer geworden nicht unbedingt von Weltverbesserungsphantasien, sondern von Anwesenheitsbalance. Willkommensein würde meist schon genügen. Ich erträume eine Art Ungeschminktsein. Die ursprünglichste Freiheit des Menschen – was anderes sollte das sein als ein unbefohlenes, ein nicht durch Kompromisse und Konflikte begrenztes Dasein. Dort gibt es erst gar keine Hürden, nichts Vertikales, auch keinen Gott in der Höhe, sondern man begegnet sich kraft des Menschenrechts auf Augenhöhe.
Foucault hat das vielleicht nicht gemeint, aber der Traum ist nicht nur nicht der Büttel einer sonstwie labyrinthischen Psyche, sondern er stellt sich prinzipiell allen Verknotungen gegenüber mit einem Recht auf Freiheit und Unversehrtheit. Im Traum gibt es eine Freiheit, die nichts kostet, aber in alle Dimensionen hinein bewegt ist, ein Hierseits der Auflösung, eine erlösende Entgrenzung. So wie die Lösungsfolien in alten Schulbüchern. Man hat vor sich ein Buchstabenchaos als farbiges Rechteck – dann legt man eine Folie in exakt dieser Farbe auf und sichtbar wird die richtige Antwort.
Als Träumer isoliere ich mich, um wieder ins Reine zu kommen. Ins Paradies auf Erden, von dem wir träumen, weil sich von ihm nur träumen lässt. Dagegen kostet das Leben sekündliche Überwindung. Anstrengungsfreiheit, Leben ohne Austausch entlang aller Limits, ist nicht zu haben. Das Paradies will quasi verdient sein (während wir infantil davon träumen, es allein durch unsere Existenz zu erwerben, weil wir „Gotteskinder“ sind).
Nur durch Echtheit investierende Lebensanwesenheit können wir paradiesisch werden, und Anwesenheit bedeutet in diesem Fall das Einbringen nicht nur unserer Existenz, sondern auch das Ausdrücken des eigenen Wesens, die Investition des Eigenen in das Gesamte. Wenn Leben ein Spielplatz ist, dann kommt es in dem Moment zum Erliegen, da niemand mehr spielt. Leben braucht Investitionen und die Vergewisserung seiner Unbegrenztheit durch den Wechsel des Stoffs, durch das Entwickeln und Wachsen. Leben grenzt sich niemals in einer Weise ab, in der es sich „erhebt über“, sondern stets verzahnt in die Vielfalt und Tiefe aller Impulse. Das Erheben hat der Mensch erfunden: gesegnet sei Pardauz in der Höhe und gottgleich sei der Mensch. Vollkommen. Das ist ganz schön daneben.
In der Lebendigkeit ist eine Unbegrenztheit angelegt, die sich die Freiheit nimmt, sich selbst zu überleben. Das Vollkommene, das perfekte Stadium, ist dagegen bereits zu Ende entwickelt und so befreit vom ständigen Wandel – aber damit auch in seiner Überlebensfähigkeit eigentlich am Ende. Streben nach Vollkommenheit ist aus dieser Perspektive ein Streben nach einem leuchtenden Tod. Aus der anthropozentrischen Perspektive jedoch wird der gottgleiche Mensch vom Grenzüberwinder zum Grenzzieher, zum Bestimmer über Leben und Tod, immer in dem fatalen Irrtum verparkt, Wissen verleihe Recht und Macht (statt Verantwortung) und etwas Gefundenes sei ein von ihm Erfundenes.
Ich träume davon Grenzen zu überwinden. Wandelbar zu sein und furchtlos, zumindest furchtloser als ich es im Alltag bin. Die Sprache ist etwas, von dem ich erträume, daß sie funktioniert. Sie gehört zu meiner Überlebensathletik, wie die Fluchtbewegung zu der des Bedrohten gehört.
Vielleicht bin ich ein Mikrofon?
30.12.2016 / 05.01.2017
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