Essay

Europa erzählen

Hamburg

Das rechte Narrativ ist eigentlich keines. So müßte man es einmal beginnen: zu sagen, daß es nicht einmal eines gibt. Sondern in Nomina gegossene Vorurteile. Der Ausländer. Die Frau. Der Hartz IV-Empfänger. Und immer der Tüchtige.

All diese Nomina kaschieren, daß etwas zu erzählen wäre: davon, daß der Mensch nur vielleicht durch die Lebensumstände Chancen bekommt,davon, daß diese Umstände günstiger zu gestalten und Menschenrechte nicht als Abstraktum verkommen zu lassen unsere Pflicht sein mag, davon allgemein, daß etwas sich entfalten kann, davon, daß man zwar niemand ein X für ein U vormachen soll – aber die Operationalität, nach der X immer X bliebe, nicht so sehr Recht hat, sondern vor allem stumpfsinnig ist.

Ein Flüchtling bleibt nicht einfach Flüchtling, er kann „unserer” nächsten Generation angehören. Eine Frau muß nicht Frau nach den Schemata Ewiggestriger sein, um vielleicht ein Einkommen wie ein gleich qualifizierter Mann zu bekommen. Ein Armer kann und soll nicht Armer, sondern vor allem Mensch sein. All diese Geschichten würden Fragen stellen und nahelegen, daß es auch anders ginge. Politik könnte diese andere Möglichkeit verwirklichen, jedenfalls manchmal – gegen den Willen jener, die von den Nomina profitieren, die den ausgebeuteten Inländer beispielsweise damit beruhigen, daß es dem Migranten ja doch immerhin schlechter ginge, den ausgebeuteten Mann mit der Frau, den Armen mit dem bloß Besitzlosen.

Die Nomina sind das divide et impera derer, die das, was zuwenig ist, reduzieren wollen, weil und solange das Viele, das sie haben, noch nicht alles ist. Aufstieg ist eben relativ, diesem Nomen sitzen die Feudalen womöglich selbst auf, wo sie besessen nicht an der Potenz ihres Kapitals interessiert sind, sondern das Gefälle zum Fetisch machen.

Ist der Brexit eine Geschichte? – Nein, ein Ressentiment. Wenn die Nomina wieder klar sind, Briten Briten und nicht Polen oder gar Syrer, dann … ja, was dann? Das ließe sich beantworten, doch nur dürftig: Dann wäre dieses abgeschottete Inselreich auch der Selbstbedienungsladen weniger Feudalherrscher, deren Kapital global fluktuiert, während zum Beispiel Nottingham seinen Ruf, Europe’s capital of unorganised crime zu sein, ruhmreich verteidigte… Das läßt sich nicht gut erzählen, weshalb die, die Großbritannien zu etwas, das neben Little Britain noch mickrig war, hysterisierten, als die Briten beschlossen hatten, sie könnten nicht Kraft der Vernunft und der Sprache dies sein: auch Europäer, auch EU-Bürger, auch Menschen, … – gingen. Mission accomplished.

Farage & Co. gingen, sie hatten die Geschichte, die Europa erzählte, so beschädigt, wie es ihre, so darf man mutmaßen, Klienten gewünscht hatten, holen sich nun ihren Anteil an dem unredlichen Geschäft und hinterlassen Trümmer; auch: Sprachtrümmer. Das muß man erzählen; und dann auch wieder, warum es nicht wahr ist, daß es dies gäbe: Den Ausländer. Die Frau. Den Hartz IV-Empfänger. Und immer den Tüchtigen. Hans Blumenberg schrieb, es füge „(j)ede Geschichte […] der blanken Macht eine Achillesferse” zu – wird Europa erzählt, so wird es auferstehen.

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