Im Gespräch: Judith Hennemann redet mit Timo Brandt
Deine derzeitige hauptberufliche Tätigkeit ist Industriesoziologin. Was darf man sich unter dieser Berufsbezeichnung vorstellen?
Ich bin bei einem großen Industrieunternehmen beschäftigt und befasse mich mit dem Zusammenspiel von Mensch, Organisation und Technik und. Dort unterstütze ich Problemlösungsprozesse in Gruppen und für einzelne Menschen. Manchmal fühle ich mich wie ein Resonanzkörper dieses sozialen Systems, mit den gleichen Leiden und Herausforderungen. Der globale Wettbewerb, die Digitalisierung, die Entfremdung von der eigenen Arbeit reichen tief in die Identität der Einzelnen hinein, egal ob Managerin oder Facharbeiter. Viele Probleme erscheinen mir künstlich, es sind unbeabsichtigte Effekte von großen Systemen. All das verarbeite ich in meiner Lyrik. Ich mag aber die Ergebnisorientierung, das Teamwork, den damit verbundenen Spaß und die Solidarität. In einem Produktionswerk gibt es wenig Politik und viel handfeste Problemlösung. Und ich leide als Lyrikerin keine existentielle Not, sondern habe ein geregeltes Einkommen, auch wenn ich nur in Teilzeit arbeite.
Wenn es eine bekannte Persönlichkeit gäbe (nicht zwingend ein/e Autor/in; nicht zwingend real), mit der du einfach so auf einen Kaffee oder ein Bier gehen könntest – wer wäre das?
Bekanntheit ist kein Kriterium für mich. Ich meine, würdest Du gerne mit Georg Trakl oder Sylvia Plath ein Bier trinken wollen? Ich nicht. Mich interessiert das, was Daniel Jurjew einmal als „Devirtualisierung“ beschrieben hat: Kennenlernen Deiner virtuellen Freunde. Als Jugendliche war ich immer die einzige, die Gedichte schrieb. Es gab kein Facebook und keine Lyrikportale und ich wusste nichts von Textwerkstätten oder Lyrikseminaren. Ich habe mit Mitte 20 frustriert aufgegeben und 10 Jahre lang überhaupt nicht geschrieben. Heute ist es für mich etwas ganz Besonderes, Lyrikerinnen und Lyriker zu treffen, deren Texte ich gelesen habe oder die mir als Persönlichkeiten, etwa auf Facebook, auffallen. Ich bin dankbar für meine treuen Brieffreundschaften und den persönlichen Austausch in meinen Schreibgruppen.
Auch Veranstaltungen oder Seminare sind für mich ein großartiger Resonanzboden: Auf einmal hat man den Eindruck, die Lyrik sei alles, was auf der Welt zählt. In solchen Momenten fühle ich mich wirklich als Dichterin. Da ich nicht aus einer literarischen Community stamme, gehört diese Überzeugung nicht so selbstverständlich zu meinem Selbstbild.
Was liest du gerade? Oder welches Buch liest du immer wieder? (+ deine Impressionen dazu?)
Elisabeth Lenk, Die unbewusste Gesellschaft. Sie betrachtet das Ich im Traum, seine Sprache und Ausdrucksformen, stemmt sich gegen die Auslotung des Subjekts durch die Psychoanalyse und die Zumutungen der gesellschaftlichen Konvention, die Zurichtung. Das war eine Offenbarung für mich. Dieses halb- oder unbewusste, verantwortungslose, unanständige, vielgestaltige, metaphysische, manchmal brutale, sich der Analyse immer wieder entziehende Traumwesen, das sich im Schlaf offenbart. Bin ich das auch? Ist Schlaf auch Leben, oder ist er etwas anderes? Womit beschäftigt sich mein Körper, wenn ich schlafe? Im Moment spielen diese Fragen, die sich um eine fremde, tabuisierte Art von Freiheit drehen, eine große Rolle in meinen Gedichten.
Ansonsten bevorzuge ich Abenteuergeschichten die mich fesseln, mir aber nicht zu nah gehen, wie etwa von Dan Simmons. Literatur verlangt mir einfach zu viel ab und wühlt mich auf.
Was fällt dir zu dem Wort „Pathos“ ein, wie verhältst du dich zu diesem Begriff?
Pathos könnte der zweite Vorname meines lyrischen Ich sein. Der erste Vorname ist aber Verstand. Anders gesagt: Pathos gehört zur Balance von Emotion und Kognition dazu, aber er sollte für mich kein ungebremster Reflex sein. Sonst landet man am anderen Ende der Skala auch sehr schnell bei der Ereiferung. Ist Pathos nicht auch eine prima Steilvorlage für Selbstironie? Das letzte Kapitel in meinem Gedichtband heißt „Ich pfeife auf die intellektuelle Würde der Melancholie“. Es ist mir wichtig, berührt zu sein, mich aber nicht von der eigenen Ergriffenheit überwältigen zu lassen.
Etwas, über das du Lachen kannst und etwas über das du nicht lachen kannst:
Ich finde, man dürfte mit dem Lachen als Reaktion ruhig mutiger umgehen. Es ist ja auch eine Alternative zur Schockstarre, eine Lösung in Akutsituationen.
Worüber ich gerne mal ordentlich lachen würde (gelingt mir aber nicht), ist die aktuelle Verherrlichung künstlicher Intelligenz sowie unsere Bereitschaft, digitale Messmaschinen am Körper zu tragen, weil der nächste Schritt sein wird, dass wir sie im Körper tragen. Schon heute sagen sie uns, ob wir im Rahmen der gesetzten Parameter ausreichend gut funktionieren oder ob Anlass zu weiterer Selbstoptimierung besteht. In dem Zusammenhang fällt mir Günther Anders‘ „Prometheische Scham“ ein, oder auch Paul-Henry Campbells Kategorie der „Salutonormativität“. Beide Begriffe haben viel mit mir zu tun.
Wenn man andere zum Lachen bringen will, ist soziales Gespür gefragt: Humor ist nicht frei vom Kontext und der individuellen Betroffenheit. Die Frage, ob man etwa über Krebs, Krieg oder den IS Witze machen darf, finde ich tricky. Mir selbst würde hier kein guter Witz gelingen.
Was würdest du antworten, wenn man dir vorwerfen würde, nicht politisch genug in deiner Kunst zu sein?
Passiert mir nicht. Man würde mir glaube ich eher vorwerfen, zu explizit politisch zu sein. Ich denke dabei an Olga Martynovas Essay über „die Dummheit der Stunde“, in dem sie sich gegen den „Terror der Aktualität“ positioniert. Sich mit der Gegenwart aktiv auseinanderzusetzen heißt für mich gerade nicht, dass ich Lösungen für aktuelle Probleme liefere, weil ich es besser wüsste. Es ist für mich eine Möglichkeit, mit gesellschaftlichem Druck umzugehen, eine Art Kampfkunst zur Selbstverteidigung oder ein Versuch der Emanzipation. Kurt Drawert ermutigt uns in seiner Textwerkstatt, dort hinzuschreiben, wo es wehtut. Es tut mir genau jetzt und hier weh. Mir ist bewusst, dass ich in gesellschaftliche Problemlagen tief verstrickt bin, das ist ja eben der Grund für mein Schreiben. Wie könnte ich das aus meiner Lyrik heraushalten?
Wenn du die Hauptthemen, um die dein literarisches Schaffen kreist, benennen müsstest, wie würden sie lauten? Gibt es formelle Gesichtspunkte, nach denen sich dein Schreiben immer richten wird?
In meinem Lyrikdebut „Bauplan für etwas anderes“ beschäftige ich mich mit der Technokratie, mit Krankheiten und der Fremdheit in der Natur. Als Lyrikerin bemühe ich mich um einen eher lakonischen oder leicht sarkastischen Blick auf das, was ich als bedrohlich empfinde. Empfindungen wie Schmerz, Liebe und Angst sind in den tieferen Schichten meiner Gedichte verborgen.
Mittlerweile frage ich mich, welche Bedeutung die Poesie für meine Identität hat: Was möchte sie, woher kommt sie? Wie fühlt sie sich an? Ist sie irgendwo in meinem Körper zu Hause, und insbesondere: Welche Sprache spricht sie ursprünglich? Ich habe diese Sprache noch nicht so richtig gefunden.
Formal lege ich mehr Wert auf „Street Credibility“ als auf Traditionen. Dazu fehlt mir auch die literarische Bildung. Mich interessiert Sprache als Materie. Ich benutze sie als Schild gegen die Überwältigung und mag deshalb monolithische Substantive: Osterfeuer. Bergwerk. Hirngespinst. Da braucht es nur wenige Adjektive. Ich mag auch Fachjargons, weil sie mir ganz verschiedene Materialien bieten. Dadurch entsteht eben diese rätselhafte Spannung und Reibung in den Gedichten, die ich selbst überall spüren kann.
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