Brief aus Berlin [30]
Madame Schoscha lebt in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der mehrfach im Jahr in einem Schöneberger Theater stattfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag.
Berlin, Dezember 2015
Heiliger Bimbam, was haben Sie mich aufgescheucht mit Ihrem energischen Brief, Madame! Und dass, obwohl Sie sich sprachlos fühlten. Mir läuten immer noch die Ohren. Aber auf eine gute, aktivierende Art. Nach längerem Schattendasein spülte wieder Lebenssaft durch Ihre Worte. Inklusive Geröll und Kiesel, ohne Rücksicht auf Verluste. Gleich sah ich uns wieder zur vorgerückten Stunde im Manouche sitzen und über dem letzten geteilten Glas eifrig Pläne schmieden. Und Sie haben Recht, jede kleine, womöglich naheliegende Aktivität führt angesichts des Schreckens zurück ins Leben. Ingeborg Bachmann schrieb in schweren Tagen an Paul Celan:
(…) man kann die Ängste nur in die Wirklichkeit tragen und sie dort auflösen, nicht im Denken.
(aus: "Herzzeit. Ingeborg Bachmann – Paul Celan Der Briefwechsel", Suhrkamp, 2008)
Ich entschied mich nach Ihrem Brief für weniger Nachrichten und mehr Frischluft. Nachdem der Kleidersack mit Winterklamotten für die Flüchtlingshilfe schnell geschnürt war, habe ich überlegt wie ich meine Kenntnisse sinnvoll einsetzen könnte. Mit etwas Vorbereitungszeit wäre das eine Kombination aus Sprachkurs und Kulturprojekt. Kurzfristig stehe ich schon als Ausfüllhelfer im Wald der Willkommensformulare bereit. Herbert Grönemeyer hat zwei Wärmebusse gespendet. Jeder Bürger hat seinen gefühlten Gestaltungsspielraum.
Ich musste keine Verschwörungsforen durchforsten, um auf die grundsätzliche Frage zu stoßen, ob der deutsche Durchschnittsbürger sich noch zu gesellschaftlichen Visionen ermutigt fühlt oder ob das inzwischen den Radikalen überlassen wird. Oder kann in den demokratischen Massengesellschaften überhaupt noch ein anderes Ziel verfolgt werden als das ihre Bürger möglichst brav konsumierten? Aufklärung hin, Tornados her.
Heiner Müller beschrieb diese Entwicklung für Deutschland nach der Wende als feindliche Zeiten für Utopie und den Möglichkeitssinn. In seinem Text "Die Küste der Barbaren" prophezeite er den jetzt stattfindenden Krieg um Schwimmwesten und Plätze in den Rettungsbooten. Ein schutzloses Himmelfahrtskommando, bei dem niemand wisse, "wo sie noch landen können, außer an kannibalischen Küsten."
Spätestens wenn aus Prognosen Gewissheiten werden, kann der Gemeinsinn sich wieder mit konkreten Aktionen bestärken. Von den vielen freiwilligen Helfern, die seit der ersten Flüchtlingswelle im Einsatz sind, kommen leider deutlich weniger Stimmen in den Kneipen und Wohnstuben an. Die Schwarzmaler krakeelen lauter. Es ist daher gut, wenn die Kanzlerin Rückzug und Abschottung als Optionen öffentlich abwählt und an die Verantwortung der Länder appelliert, die zu den Profiteuren der globalisierten Warenwelt gehören. Mündige Bürger können nicht oft genug an die weltweiten Auswirkungen und Verstrickungen ihres Konsumverhaltens erinnert werden. Von Waffenlieferungen und Kriegseinsätzen ganz zu schweigen.
Bemerkungen wie die einer Bekannten, die früher aktive Anhängerin der Friedensbewegung gewesen ist, höre ich jetzt zuhauf: Früher wären sie sofort auf die Straßen gegangen. Man hätte ganz klar gewusst, wogegen man ist. Es hätte ihr eine enorme Kraft gegeben, sich gegen etwas auszurichten. Aber heute stünde sie auf dem Schlauch, wenn sie erklären sollte, wie der IS ohne kriegerische Auseinandersetzung zu stoppen sei. Der exponentielle Zuwachs an zugänglichen Informationen lehrt nicht gleichzeitig den Umgang damit.
Die Berliner Verkehrsbetriebe begegnen der kompliziert gewordenen Welt aktuell mit einem humorigen Werbespot, indem die kunterbunte Individualität der Berliner Fahrgäste von einem rappenden U-Bahn-Schaffner stoisch ertragen wird. Die überraschende Botschaft am Ende ist Liebe. Das langfristig effektivste Mittel, um sich nicht mit einer Waffe in der Hand vollständig fühlen zu müssen.
Im Vergleich zu Ihren hochgerüsteten Eindrücken aus Barcelona habe ich in Berlin noch keine sichtbare Erhöhung der Sicherheitsmaßnahmen feststellen können. Mit dem gleichen Atemzug ertappe ich mich allerdings bei dem Gedanken: bis etwas passiert. Außerdem meide ich die großen Menschenaufläufe und Weihnachtsmärkte. Der Verzicht auf Glühwein trifft noch nicht ins Mark. Aber besinnliche Stimmung will sich im öffentlichen Raum auch nicht einstellen. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie meine Gefühlslage in Kindertagen war, als ich zum ersten Mal die schwarz-weißen Fahndungsfotos der RAF angestarrt habe. Es ging eine gewisse Faszination von den Steckbriefen aus, die ich bis dahin nur aus Lucky Luke Comics kannte. Wenngleich ich die politische Dimension damals nicht verstand, schien die Bedrohung eingrenzbar. Ich prägte mir die Gesichter der gesuchten Terroristen ein, um im Falle des Falles rechtzeitig die Flucht ergreifen zu können. Falls Sie zwischen den Jahren ein besonderes Buch über Wege in den Untergrund und die Zeit des innerdeutschen Terrors lesen wollen, empfehle ich Ihnen „Das Verschwinden des Philip S.“ von Ulrike Edschmid. Die Autorin beschreibt das gemeinsame Leben mit Philip Werner Sauber, der 1975 als mutmaßlicher Terrorist auf einem Kölner Parkplatz erschossen wurde. In einer gegenwärtigen Sprache, die nichts rechtfertigen oder beschönigen will, erzählt sie von schwerwiegenden Entscheidungen in politisch aufgeladenen Zeiten. In einer Szene sitzen die beiden vor einer laufenden Waschmaschine. Die Textstelle liest sich für mich auch wie eine Erinnerung daran, dem inneren Jahresrückblick nicht zu wenig Platz einzuräumen, neben den üblichen Nachrichtenbildern:
„Während sich die Trommel dreht und unsere Fundstücke im Schaum erscheinen und wieder versinken, steigen aus den Dingen Visionen einer Welt auf, in der wir mit unseren alten Kleidern leben wollen,(…)“
Wer nicht nur mit den alten Kleidern, sondern auch gemeinsam mit jungen Kindern durch diese Welt gehen möchte, handelt schlichtweg verantwortungslos, wenn er seine zynische Perspektive stolz vor sich herträgt, ohne sich um den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bemühen. Auch Heiner Müller sieht am Ende seines barbarischen Textes durch ein kleines Hoffnungsfenster. Und zwar bei jeder Generation, die ihren eigenen Kindern aufs Neue die Zustände der Welt erklären müsse. Ich habe vor ein paar Tagen mit meinem Patenkind den Disneyklassiker „Bernard & Bianca“ angeschaut, den ich als Kind sehr geliebt habe. Dort erklärt der alte Kater Rufus dem Waisenkind Penny, dass Zuversicht ein blauer Vogel sei, den man aus der Ferne sehen könne. Sie kennen meine Schwäche für die Meise, Madame. Der Satz schlug eine direkte Schneise zum berühmten Hoffnungsgedicht von Emily Dickinson:
Hope is the thing with feathers
that perches in the soul –
And sings the tune without the words-
And never stops – at all
Wie Sie richtig vermuteten, habe ich mich nochmal mit Fräulein Ohm zu einem längeren Spaziergang in Pritzwalk getroffen. Auch Sie war sehr angetan von Ihren lebensmutigen Zeilen und lässt Sie vor der anstehenden Recherchereise herzlich grüßen. Wir waren uns einig, dass wir drei uns zum richtigen Zeitpunkt wiedersehen werden.
Ich wünsche Ihnen friedvolle Weihnachtstage und einen federleichten Übergang ins neue Jahr, Madame!
Ihr Herr Altobelli
PS: Beigefügt erhalten Sie wieder eine Illustration der Berliner Künstlerin Larisa Lauber. Sie hat passend zum Jahreswechsel meinen Brief um eine wunderbare Dimension erweitert.
Fixpoetry 2015
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben