Kultursalon Madame Schoscha

Brief aus Berlin [32]

Monatliche Kolumne des Kultursalons Madame Schoscha: Altobelli schreibt an Reger
Berlin

Illustration: Larisa Lauber Madame Schoscha lebt jetzt schon eine Weile in Barcelona. Ihr alter Bekannter, Herr Altobelli, weiterhin in Berlin. Beide leben sie in einer ganz eigenen Zeit. Und dennoch in dieser Welt, worüber sie sich gegenseitig berichten. Sie schreiben sich Briefe. Im monatlichen Wechsel flattert ein Brief aus Berlin oder Barcelona herein und vereint die aktuelle, kulturelle Erlebniswelt der beiden. Ganz wie im gleichnamigen Kultursalon Madame Schoscha, der sich mehrfach im Jahr an wechselnden Orten zusammenfindet, geben sich die beiden Auskunft über ihre Entdeckungen aus Kunst und Alltag.

 

Blicke durchs Hagioskop

Reger Reger,

wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen Sie leiden an einer pervertierten Form von Gefallsucht. Aber leiden Sie überhaupt? Schon zu Studienzeiten gefielen Sie sich in der Rolle des Unantastbaren. Die geballte Ablehnung der Kommilitonen trugen Sie regelmäßig mit Fassung oder sogar mit einem gewissen Stolz wie andere neue Kleider. Ich erinnere mich wie ein Professor Sie damals spitzfindig fragte, warum Sie freiwillig durchs Hagioskop schauten, wenn Sie doch auch am regulären Gottesdienst teilnehmen könnten. Niemand im Auditorium hatte bis dato von den Sichtspalten für Leprakranke in mittelalterlichen Kirchenmauern gehört. Sie brauchten keine Sekunde um mit fester Stimme zu antworten, dass nur auf diese Weise genau die richtige Distanz und Tiefenschärfe erreicht würde. Kurzes Schweigen im Walde.

Mit diesen aufgefrischten Erinnerungen wurde mir klar, dass es Ihnen mit Ihrem Brief nicht darum gehen konnte, mich mit Ihrer allgemeinen Dichterlesungsschelte irgendwie zu treffen. Abgehakt als Kulturoptimist jenseits der 30 war ich doch nie ein interessanter Gegner für Sie gewesen. Sie führten etwas anderes im Schilde.

Da Sie immer der bessere Forscher waren, hat es mich auch fast einen Monat gekostet, um dahinter zu kommen, welches größere Bild sich hinter Ihrer Berliner Schimpftirade verborgen hat. Es war doch kein Zufall, dass Sie sich im Speziellen einen Lyriker mit Antikenbezug und Bienenmetaphorik ausgesucht haben. In der Bibliothek führte mich eine erste Spur zu Rilke und seinem berühmten Brief an den polnischen Übersetzer Hulewicz:

„(…)unsere Aufgabe ist es, diese vorläufige, hinfällige Erde uns so tief, so leidend und leidenschaftlich einzuprägen, daß ihr Wesen in uns „unsichtbar“ wieder aufersteht. Wir sind die Bienen des Unsichtbaren.“

Mit unsichtbaren Dichterlesungen könnte ich Sie vermutlich noch locken aber sicherlich nicht mit lebensphilosophischem Pathos. Castles made of sand fall into the sea, eventually. Zur Ablenkung nahm ich Herzogs „Fitzcarraldo“ aus dem Regal, den ich das letzte Mal als junger Student gesehen hatte. Seiner Zeit beeindruckte mich der physische Kraftakt, für diese wahnwitzige Idee ein schweres Schiff über einen schlammigen Bergkamm zu ziehen. Ein Modellboot kam einfach nicht in Frage. Beim nochmaligen Anschauen berührte mich am meisten die darauf folgende Szene des scheiternden Projekts. Die Handlung verbleibt aber nicht lange bei der Enttäuschung des Protagonisten. Oder war mein Empfinden nachträglich vom Klappentext der DVD überlagert? Hier heißt es:

„Das Schönste aber ist die Leichtigkeit, die sich nach der Erlösung durch das Scheitern einstellt, nachdem das Schiff durch die Stromschnellen getrieben ist. Diese einzigartige Stimmung von heiterer Gelöstheit!“

Mythos und Naturgesetz schienen sich an dieser Stelle Nase an Nase zu begegnen. Wie Kinski und Herzog bei ihren Konflikten am Set. Die unangestrengte Aktivität des Fitzcarraldos, die sich aus der oben beschriebenen Gelöstheit ergibt, würde man heute wohl mit dem Schlagwort „flow“ bezeichnen. Aus dem Scheitern des großen Plans wird eine gelungene Inszenierung auf dem Wasser. Das jubelnde Publikum am Ufer hat die Vorstellung nicht als Ersatz wahrgenommen.

Beim Stichwort Mythos hatte ich bereits wieder Ihre Fährte aufgenommen, lieber Reger. Vor Urzeiten hatten Sie mir von einer sagenhaften Vorstellung aus der Antike berichtet, die als Bugonie bezeichnet wird. Man glaubte, dass aus dem verwesenden Körper eines Stierkadavers ein Bienenvolk entstehen würde. Den konkreteren Vorgang haben Sie mir damals verschwiegen, wie ich bei den erwähnten Überlieferungen auszugsweise nachlesen konnte

„Dabei wird ein mindestens zweijähriges Rind erstickt oder mit Knüppelschlägen getötet und anschließend dessen Eingeweide mit Schlägen von stumpfen Gegenständen zertrümmert. Der Bauch des Tieres darf allerdings nicht verletzt werden, da daraus das neue Bienenvolk entstehen soll.“1

Das war also der kulturgeschichtliche Hintergrund für Ihre Versuchsanordnung, in der Tobias Roth für eine höhere Sache künstlerisch geopfert werden soll. Bei mir stoßen Sie dabei auf taube Ohren. Suchen Sie sich doch junge Literaturstudenten, denen Sie Ihre krude Beweisführung für das Fortwirken alter Mythen bis in unsere Zeit frisch auftischen können.

Tobias Roth wäre sicherlich geschmeichelt, dass Sie ihn bei diesem Vergleich mit dem Kraftpotential eines Stieres ausgestattet haben. Aber wer oder was steht für das entstehende Bienenvolk? Die Nützlichkeit fürs Gemeinwohl?  

Ich war nie dafür prädestiniert strenger Kritiker oder Scharfrichter zu werden. Auch nicht in Zeiten, wo wieder der Ruf nach starken Stimmen laut wird.

„Und ich glaube eben nicht, dass ich mit Gedichten Aufklärung betreiben könnte. Ich kann aber auf sie bestehen. Das heißt, dass ich als Leser nicht will, dass mir jemand etwas vorkaut.“2

„Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene.“3

„Aber was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät regelmäßig und danach nur noch sehr sporadisch und nur bei wenigen Büchern hatte: daß man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewußtsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, selbst, um ehrlich zu sein, in Gesprächen mit Freunden nur selten und noch seltener in Filmen, und daß es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zuviel gelesen habe, eine Unterscheidung, die mir nie fremd war, aber unter Gewohnheit und Understatement lange verschüttet.“4

„Sprache ist etwas, was man erbt, man ist nie ganz man selbst, wenn man spricht, auch das hilft beim Lügen.“5

„Füchse sind gar keine Rudeltiere. (…) Ja, egal, `s rhyme ist fett. Der rhyme ist fett!“6

Reger, es mag Ihnen befremdlich erscheinen, aber Sie abschließend mit einer Hip-Hop-Zeile zu belästigen fühlt sich auch wie eine kleine Befreiung an.

Mir ist nach all den Jahren jetzt erst aufgefallen, dass es sich bei Ihrem Namen um ein Palindrom handelt. Aha. Das erklärt einiges. Und birgt jedenfalls schon das ganze Material für eine in sich geschlossene Welt.

Ich wünsche Ihnen gutes Durchhaltevermögen für Ihr Übersetzungsprojekt und bin gespannt welche Volten des Schicksals uns wieder zusammenführen werden.

Ihr Altobelli

 

PS: Beigefügt erhalten Sie eine Illustration der Berliner Künstlerin Larisa Lauber. Sie wird erfreulicherweise auch in diesem Jahr meine Briefe um eine wunderbare Dimension erweitern.

  • 1. siehe Wikipediaeintrag zu Bugonie
  • 2. Tom Bresemann im Interview auf  booknerds.de vom 13.04.2015
  • 3. aus: Alte Meister, Thomas Bernhard
  • 4. aus: Arbeit und Struktur, Wolfgang Herrndorf
  • 5. aus: Nachts kommen die Füchse, Cees Nooteboom
  • 6. Liedende von „Füchse“, Absolute Beginner

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