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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Den Leuten geben, was sie wollen

Eine kleine Anthologie über das Wagnis der Lesung
Hamburg

Ein akustisch einwandfreier Saal, ein leicht erreichbares WC, Trinkglas und Aschenbecher sowohl im Aufenthaltsraum als auch auf dem Lesetisch, im Anschluß an die Veranstaltung ein gutbürgerliches Lokal und natürlich ein am Folgetag zu überweisendes Honorar in Höhe von 5.100 DM — das sind nur einige der Forderungen, die Ernst Jandl in einem jüngst von Klaus Siblewski im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufgefundenen Schreiben an seine Veranstalter stellt, und man kann sie nicht eben bescheiden nennen. Doch Jandl war allemal sein Geld wert, er konnte in späteren Jahren mühelos ganze Säle füllen, und wer einmal eine seiner Lesungen besucht hat, wird ihre vokale Bandbreite lange bewundernd in Erinnerung behalten, selbst dann noch — oder gerade dann —, wenn ihm die gedruckten Texte ein wenig mager erscheinen.

Nicht überall hat Jandl diese Forderungen erfüllt vorgefunden, doch sie waren keine unumstößlichen Bedingungen, daß Jandl überhaupt las, wohl aber Voraussetzungen für eine nach seinen Maßstäben ideale Lesung. Die beiden Herausgeber des schmalen Bändchens, Klaus Siblewski und Hanns-Josef Ortheil, haben insgesamt einundzwanzig Autorinnen und Autoren gebeten, mit ihren unterschiedlichen Temperamenten auf den Text von Ernst Jandl zu reagieren. Eine raffende Zusammenfassung der einzelnen Beträge hat Ortheil im Nachwort selbst gegeben, sie soll deshalb an dieser Stelle nicht wiederholt werden, da sie schon im Buch unnötig lang gerät.

Lyrik oder Prosa, erste oder tausendste Lesung, großes oder kleines Publikum — die Erwartungen an sich selbst, an das Publikum und die Veranstalter sind im Grundsatz so unterschiedlich nicht: Dem Publikum soll ein interessanter, unterhaltsamer oder aufschlußreicher Einblick in die Texte gewährt werden. Anders verhält es sich mit den persönlichen Erfahrungen, die viele Beiträge der Anthologie anekdotisch auskosten, denn die „ideale Lesung“ wird in den seltensten Fällen erreicht, oft herrschen kurioses Chaos, Mißverständnisse und Mißstimmigkeiten vor. Autorinnen und Autoren, die selbst Lesungen halten oder gehalten haben, werden den einen oder anderen Umstand durchaus wiedererkennen; dem Publikum, dieser unbekannten Größe, die nun lesend zu dem Band greift, und den Veranstaltern, offenbar alles andere als marottenfrei, bietet sich manch aufschlußreicher Einblick in die seelische Verfaßtheit des von ihnen eingeladenen Autors bzw. der Autorin.

Vergnüglich ist die Lektüre allemal. Hier wird kokettiert, da zynisch gelächelt, dort weise genickt. Die berichteten Begebnisse und Begegnungen haben nicht selten der Charakter einer Realsatire. Doch auch Nachdenkliches tritt zutage, etwa wenn Kevin Kuhn die Lesung mit der eigenen Zuhörererfahrung als Kind vergleicht oder Thomas Klupp bekennt, daß er keine Lesungen außer die eigenen besucht. Sehr sympathisch ist der Beitrag von Annette Pehnt, die die ideale Lesung aus den gewohnten Räumlichkeiten und Konventionen auf eine Wiese mit tollenden Hunden, Musik und versammelten Freunden hinausführen möchte —: das ist die wunderbar souveräne Nichtachtung des Literaturbetriebs zugunsten einer menschlichen Atmosphäre, ein schönes Märchen.

Trotz der anekdotischen Finessen, der blitzgescheiten Betrachtungen, bleibt doch in summa ein Gefühl des Ungenügens, denn am Ende löst der Band nicht vollends ein, was sein Titel verspricht. Es fehlen etwa essayistische Würfe über die Bedeutung der öffentlichen Lesung im gegenwärtigen Betrieb, über die Beziehung von Schreibendem und Publikum, es fehlen kritische Stimmen, die das Konzept der Lesung hinterfragen. In allen Beiträgen wird nämlich die Lesung widerspruchslos als unabdingbarer Teil des literarischen Lebens angesehen, doch ich bin sicher, es hätte Stimmen gegeben, die bekennen, daß sie Lesungen hassen und allein des — meist verdammt mageren — Honorars wegen bestreiten, oder daß sie grundsätzlich einen eremitischen Einzelleser der Veranstaltung vorziehen. Solche Stimmen hätten das Buch insgesamt kontroverser und somit ausgewogener, tiefgründiger gestaltet. Es bleibt daher eine Anthologie, die man sehr gerne liest und, von einigen nachdrücklichen Beiträgen abgesehen, leider auch bald wieder vergißt.

Klaus Siblewski (Hg.) · Hanns-Josef Ortheil (Hg.)
Die ideale Lesung
Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung
2017 · 160 Seiten · 15,00 Euro
ISBN:
978-3-87162-092-8

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