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Kritik

„Genau da, wo es nichts Neues zu sagen gibt, hilft nur noch das Erzählen“ („P.S.: Vermeiden sie Redundanz.“)

Die Ausgabe 84 von Ostragehege, gelesen
Hamburg

eine Uhr wollte Pedro nicht tragen, da er der Meinung war, dass jemand, der eine große Sehnsucht in sich trage, keine Zeit hätte, ständig auf die Uhr zu sehen.

Die Ausgabe beginnt mit einer Erzählung von Franz Hodjak: Der aus dem Kaukasus stammende Pjotr – der nun, in Deutschland aufgenommen, Peter heißt, sich aber schon Pedro nennt, weil er Mexikaner werden will – spielt im Schlosspark öfter mit dem Rentner Georg, der ebenfalls ursprünglich aus einem anderen Land kommt, Schach. Mit etwas Aberwitz und einer leicht-liebevollen Charakter- und Atmosphärenzeichnung, gelingt Hodjak eine kurzweilige Freundschafts- und Fremdheitsgeschichte.

Ihre Graphiken haben Worte und Sprache in mir erregt und eine expressive Antwort ausgelöst

Etwas überschwänglich-schwärmerisch, geradezu entsetzend-epiphanisch, schildert Heinz Weissflog im Bildende-Kunst-Teil seine Begegnung mit den Graphiken von Kerstin Franke-Gneuß. Diese Graphiken haben zwar in der Tat etwas Fesselndes und sprengen zunächst jede Einschätzung mit ihren schwarzen und weißen Geästen, bei denen man nicht weiß, ob sie als gemeinsame Fläche etwas erschließen oder eher willkürlich als Einzelform ineinandergreifen, aber die etwas zu wuchtige Einführung illuminiert die Werke für mich nicht (anfangs schon), sondern höhlt sie aus, sodass ich keinen eigenen Zugang erreiche. Obgleich, bei aller Kritik: die Schilderung ist virtuos, zweifellos.

Die sanfte Elendigkeit in Róža Domašcyna Gedichten berührt mich, trennt mich unvermittelt auf. Sie künden fast durchgehend von seltsamen Abschieden, von Entfernungen, die sich zwischen Wunsch und Wirklichkeit auftun.

Den Hügel, besetzt mit einigen mächtigen Kiefern, die sich aristokratisch über vielerlei Buschwerk ausbreiteten, konnte man nur wegen des dafür fehlenden Wortes Hügel nennen.

Gleich als nächstes kommt eine Erzählung von Jurij Khěžka, die Domašcyna aus dem Obersorbischen übersetzt hat. Titel: Raubvogel. Sie wirkt zunächst wie eine etwas zu sehr aus Sprachmalerei zusammengezimmerte Posse, aber dieser Eindruck legt sich schnell, wenn man einmal in den Text hineingefunden hat. Dann wird die Sprache Vermittlerin einer kurzen Geschichte über die Begegnung zwischen Mensch und Tier, mit einem kleinen Hauch von Außergewöhnlichkeit.

Komplex und dicht fächert sich die Erzählung von Ina Backasch auf. Auch bei ihr spielen Tiere eine Rolle, aber noch mehr Traum und Wirklichkeit, Metamorphose und Symbolik. Eine zunächst fast anteilnahmslose Sprache verdichtet sich zu Momenten tiefster Anschaulichkeit, schnappt dann wieder zurück, nur um sich wiederum auf Umwegen anzuschleichen. Es ist ein ruheloser Text, der immer dann eine Gabelung erreicht, wenn man gerade meint, man wüsste, worauf er hinausläuft – selbst das Ende ist noch eine Gabelung, bei der ein Weg zurück zum Anfang und ein weiterer ins Ungewisse weißt.

und unter den Namen in meinem Herzen fühlte ich deinen
wie ein bisschen Schnee in den Astgabeln.

Die Lyrik von Jean-Baptiste Para (übersetzt von Margret Millischer) ist eine Entdeckung, zu der man dem Ostragehege nur gratulieren kann! Viele Sinne werden angesprochen, das Haptische und das Imaginierte verschmelzen miteinander, und sie gerinnen unterschiedlich. Nochmals: eine Entdeckung, eine großartige.

Weniger überzeugen können mich die Orpheus und Eurydike Gedichte des polnischen Autors Aleksander Nawrocki (übersetzt von Peter Gehrisch). Vielleicht bin ich da vorbelastet und parteiisch, aber all die langenden Bilder in den beiden Zyklen können es irgendwie nicht mit der bestimmten Sanftheit von Rilkes „Orpheus. Eurydike. Hermes“ aufnehmen (was möglicherweise ein unfairer Vergleich ist).

Sehr gefreut habe ich mich über das Interview mit dem Schriftsteller Peter Bichsel über das Erzählen, seine Macht, seine Tricks, seine Untiefen. Zwar wird sein Stil im Vorwort des Textes wohl einmal zu oft als „gewieft“ oder „raffiniert“ beschrieben, aber wenn es ums Loben geht ist der Wortschatz ja meist schnell am Ende und muss sich in Synonyme flüchten.

Die Spinne ist eine Pedantin.

Das Interview ist gleichsam der Auftakt für einen Abschnitt mit neuen Texten aus der Schweiz; in der Einführung pocht Beat Mazenauer vor allem auf die Verfremdung, die in den Texten stattfindet. Zsuzsanna Gahses beide Texte, über eine Spinne bzw. Montaigne und die Lebensart in manchen Gegenden der Schweiz, sind recht unaufgeregt, reihen Abschnitte mit Beobachtungen und Informationen aneinander.

Die Begegnungen, von denen in Michelle Steinbecks Gedichten die Rede ist, haben etwas Bezeichnendes und zugleich Ausweichendes, Fluchtreflexe spiegeln sich darin – aber auch etwas, das sich stellt, das sich mit dem leisen Entsetzen, dem Versuch der Leugnung konfrontiert.

Wasser schießt ins Glas heller als Asche und füllt
Durst
da schiesst inseits ein Fisch in die Höhe und in die Tiefe und ringsherum
es ist nicht schwer

Wer schon einmal gehört hat, wie Michael Fehr seine Texte vorträgt, der wird seine Stimme im Ohr haben, wenn er die Gedichte liest, die sich klanglich fein, heiter bis glasig, dahinschlängeln, in Serpentinen, die sich wie auf einem paradoxen Gemälde an den unmöglichsten Stellen ineinander stülpen und auseinanderlaufen; eine sprachliche Jongliernummer, mit ein bisschen Wahnwitz – und viel Freude hat man daran.

Ich weiß zwar immer noch nicht, woher das Wort Espresso kommt und ob der Chef im Dubai-Turm in Peter Webers Geschichte seinen Angestellten wegen der Kaffeemaschine nun rügen darf oder nicht, aber fest steht, dass man schon eine Vorliebe fürs Kleinteilige haben muss, um Webers Geschichten zu mögen.

Ich stellte mir die großen Fragen
Etwa die
Wie sieht der Sternenhimmel aus von oben
Also wenn man auf die Sterne herabsieht

Jens Nielsens Langgedichte drehen sich vor allem um Versuche zum Kosmischen. Da versucht einer die Sterne von oben zu sehen, eine Tochter versucht mittels Karma-Lasso ihren Vater aus der Unterwelt zu holen und über allem schwebt Gott, hat ein Schloss wie Versailles oder der Himmel ist aus Pappmaschee und er versucht sich einzurichten, alles von der besten Seite zu sehen. Aber vor allem müssen Dinge immerzu gesagt werden, damit sie nicht verschwinden, ist doch klar. Sie haben etwas Schönes, diese Gedichte, aber auch etwas Braves.

Die „Memories“ von Marina Skalova, Texte, in denen das Französische und das Deutsche sich aneinander reiben und wo aus Übersetzungen schließlich gegenseitige Verschlüsselungen werden, dürften für alle, die diese Art von Kommunikation zwischen Sprachen schätzen, extrem spannend sein.

Wohl nicht der richtige Leser bin ich für das Gespräch zwischen Hubertus Giebe und Eduard Beaucamp (moderiert von Gisbert Porstmann) zum „Fortdauern des Narrativen in der Malerei“, für das mir schlicht der Background fehlt und obwohl an verschiedenste faszinierende Gemälde/Künstler*innen verwiesen wird, ist doch im Gespräch keine Zeit für Vertiefungen, es besteht hauptsächlich aus präzisen Erörterungen.

über den dingen die aggregate
summen zaubersprüche in die leeren straßen
[…]
da starb gerade eine Uhr an unsrer zeit

Bei den Gedichten von Udine Materni (sehr schön eingeführt von Jayne-Ann Igel) hat mich vor allem das erste in seinen Bann gezogen: eine eher schlichte Annäherung an die Gestalt des Vaters, eines Bäckers. Ein einfühlsames und doch fernes Porträt. Großartig. Aber auch die anderen drei Gedichte machen neugierig auf mehr von dieser Dichterin.

in meinem vater gibt es unbekannte zonen, darunter kniehohes erz,
lab, gottfluss.

Armin Steigenbergers erstes Gedicht beginnt ebenfalls mit der Figur des Vaters, schunkelt dann dahin, richtet sich in seiner Natur, seinem Naturell ein; diese Einrichten geschieht auch im zweiten Gedicht. Es entstehen schöne Verdichtungen, Zuspitzungen, allerhand Streifendes wird eingeschworen.

Aushalten, was nicht greifbar ist.

Dieses Zitat fasst meine Gefühle für das Gedicht von Nicola Quass ganz gut zusammen und ist auch eine gute Zusammenfassung der darin vorherrschenden Stimmung. In einem Flugzeug das Überflogene überfliegend, findet das Gedicht hauptsächlich Bilder für die Entfernung – aber eine Annäherung an die Entfernungen findet ebenfalls statt.

Großartig die simple Staffage in Lutz Rathenows Gedicht „Irgendetwas stört“. Wenn es gerade nicht die Hunde sind oder die Sonne oder der Juckreiz, ist es die Mitbewohnerin, die an die Tür klopft, während man gerade versucht, einen Satz zu formulieren. Ja, das Leben besteht aus Störungen und Ruhe, Euphorie und Langeweile, lesen wir mal wieder ein paar Zeilen darüber.

P.S.: Vermeiden sie Redundanz.

Nach einem kleinen, flinken Aufruf zum Ätherbeitrag von Judith Hennemann und einem mich ziemlich ratlos zurücklassenden kurzen Gedicht von Daniel Ketteler, folgt eine schöne Allegorie von André Schinkel, in der sich unsere Blicke hervorwölben

ins Gleißen, was den Flaum, der wir sind, vom Vorüberrauschen der Dinge abhält: Das ist der Traum von unserem Glück

Was mir an Clemens Schittkos Gedichten immer so gefällt, ist, dass sie aus der Deckung kommen, herumgehen. Es ist als redeten sie direkt mit einem und dichteten gar nicht (obgleich sie es tun).

Nach einem Gedicht voller Erinnerungsbilder und einem weiteren über die Verheißung des Abschieds und ihre Bühne, den Bahnhof, von Christa Cibulka, setzt Heike Olschansky einen etwas verstiegenen Schlusspunkt mit Versen wie diesen:

Tee (im Volare)
t wie Tod
Riesenreinlege
ee wie Eistee
e ist ee
Interjektion (nicht Erektion)
mit Konsonant

Dann folgen noch einige Rezensionen, die beim Ostragehege meist sehr gelungen sind; diesmal besonders lesenswert: die beiden Besprechungen, die jeweils im Doppelpack die Lyrikbände von Elke Erb & Ulrike Feibig (Rezensent: Thomas Gärtner) und die von Róža Domašcyma & Thomas Böhme (Rezensent: Patrick Wilden) besprechen – Hut ab! 

Fazit: Eine weitere tolle Ausgabe, vor allem in Sachen Lyrik bekommt man viel geboten!

 

Anmerkung der Redaktion: alle beteiligten Autor_innen, zu denen wir einen sinnvollen Pfad gefunden haben, sind verlinkt.

Literarische Arena e.V. (Hg.)
Ostragehege 84 · Zeitschrift für Literatur und Kunst
Ostragehege
2017 · 4,90 Euro

Fixpoetry 2017
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