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Kritik

Kein / Manifest

Hamburg

Narr also. "Das narrativistische Literaturmagazin", steht auf dem Cover der Ausgabe #22, die zu besprechen ist – einem kleinformatigen Taschenbuch, das in seiner Aufmachung unbestimmte Nostalgien weckt –  steht aber genau so auch auf den Nummern 19, 20 und 21. Die habe ich gleich mitgeschickt bekommen, ebenso wie Nummer 16/17 (aber da steht das nicht drauf, das ist überhaupt anders aufgemacht), und ich bin froh darüber. Die Redaktion scheint eine sehr bestimmte Vorstellung davon zu haben – und auch durchsetzen zu können – was erstens für ihr schweizerisches Magazin "junge[r], frische[r] Texte" rein gestalterisch gut aussieht und was zweitens, textästhetisch und inhaltlich, in die Zeitschrift darf. Will sagen: Deutlicher als bei den meisten anderen Zeitschriften ist auch für den kursorischen Leser von Narr #22 eine Blattlinie sichtbar.

Wobei es gar nicht so leicht ist, die Blattlinie just über den Begriff des "Narrativistischen" zu fassen zu bekommen. Im Netz geistert z. B. ein Interview herum, das Anna Ospelt 2012 mit der Redaktion geführt hat. In einer Zusammenfassung heißt es u.a.:

„Wir sind aber kein Feel-good-Magazin, wo jeder mal was veröffentlichen kann. Wir wollen anspruchsvolle und gute Literatur drucken“, macht Lukas Gloor deutlich. Daniel nickt und sagt: „Wir wollen die Lücke schließen zwischen Schublade und Verlag.“ Dabei gehe es nicht darum, dass nur Studierte das Magazin verstehen sollen, die Gründer des „Narr“ versuchen eine breite Leserschaft anzusprechen und keine elitäre Studentenliteratur zu verlegen. Hier liege ein Problem beim Wort „Narrativismus“. Dabei geht es laut René Frauchiger schlicht um eine Gruppe, die gerne erzählt, im allgemeinsten Sinne. Dieser Drang zu erzählen – sei es dem Klang der Sprache oder einer Geschichte zuliebe – sei letzte Voraussetzung für Literatur. Aber: „Wir wollen kein narrativistisches Manifest schreiben, an das sich alle halten müssen. (…) “

… und es scheint das Magazin, wie ich es durchblättere, sehr wohl allem diesem gerecht zu werden:  Keine halbguten Beiträge, sondern lauter Sachen, die eine stilbewusste Redaktion aus im Einzelnen besseren Gründen abgesegnet hat als bloß "Die hat nächstes Jahr ein Debüt bei XYZ" oder "Der hat uns letztens zwei Runden geschmissen, und sooo scheiße sind seine Liebesgedichte auch wieder nicht." – check. Zeug "zwischen Schublade und Verlag" – check. Für ein breiteres Publikum bei aufrechter Undoofheit zugänglich – check. (Und das liegt schon auch an der Präsentation des Ganzen als Layouter-Spielplatz, inklusive, wie gesagt, vertrauenerweckenden Gestaltungsdetails, die man "von früher" zu kennen meint … aber daran nicht nur, sondern schon auch an der Textauswahl). Aber es ist just die damalige Interviewerin, Anna Ospelt, von der, exakt entgegen dem eben zitierten Postulat von 2012, in der gegenwärtigen Ausgabe ein "narrativistisches Manifest #6" zu finden ist:

Ich habe keine Lilienzwiebel gegessen und bin auch kein Lilienbaum. Aber gestern zwiebelte ich mich.

Ich zwiebelte mich wie ich mich manchmal zwiebele, aber zu selten zwiebele. Sich zwiebeln steht für sich Haut für Haut häuten. (…)

Ah … Sinnerstellung unter Mithilfe der Leser_innenschaft, die nicht nur die Punkte zwischen Inhalt, Motto, Register, Formerwartung gefälligst selbst verknüpfen soll, sondern der – wie wir als Nichtschweizer vermuten dürfen – auch abverlangt wird, den Kontext jenes paar Jährchen alten Interviews präsent zu haben. Mit anderen Worten: "Narr" funktioniert zwar – als Zeitschrift – auch ohne Kontext und Szenezeugs, aber mehr Spaß macht's mit. (Erwischt!)

Was die Texte gemeinsam haben, die in Narr #22 erschienen sind, ist, dass sie uns allesamt nicht unterfordern noch unterschätzen, aber zugleich der Gestus des Sich-Selbst-Nicht-Zu-Ernst-Nehmens sich durch sie hinzieht. Redakteur Frauchiger hüpft etwa in "Strickmuster IX" recht unvermittelt aus dem Modus einer Erzählung in eine Lyrik-Satire und dann in einen Essay, ohne dass sein Text den roten Faden verlöre –

Dann kannst du
Unser Gespräch
Einfach aufschreiben
Und als Gedicht verkaufen!,

sagt in jener Erzählung nämlich einer, und danach ist der Text plötzlich ein Essay und dreht sich um Gattungsfragen. Der Gestus von Viktor Dallmanns einem Gedichtzyklus – "Schongang" – findet sich in seinem anderen Text – "Probleme" – recht unkompliziert auf einen lebenspraktischen Punkt gebracht und umgedreht. Die Prosen von Jonis Hartmann und Gorch Maltzen richten sich bequem zwischen Erzählung und Selbstreferenz ein, wissen ca., dass sie die richtige Pointenfrequenz haben, und versuchen ansonsten nicht, uns was zu beweisen; die Prosaminiaturen von Wolfgang Wurm schließlich sind traurig und ernsthaft in der Art der Fernsehserie "Fargo" (so sehr, dass es witzig wird).

Nein, nicht alles im Narren #22 ist fürs Existieren auf dem Literaturmarkt prädestiniert. Manches ginge (oder geht ohnehin) schon durch, und alles muss ja auch nicht. Klug, unterhaltsam, und gerade in seiner unaufgeregten Szenemagazinhaftigkeit ein Refugium gegen die zeitgenössische Verengung des Literaturbetriebs aufs Dem-Agentur-Unwesen-Genehme (selbst wenn im Vorwort der Ausgabe zu lesen steht, dass Narr-Redakteur Adam Schwarz jetzt anscheinend in Leipzig studiert [und zwar, nota bene, Philosophie und nicht etwa am DLL] und dort nach Kräften netzwerkt) ist der Narr allemal.

(Und die kleinen Fotoflyerchen, die jeder Nummer beiliegen – die sind auch super!)

René Frauchiger (Hg.) · Lukas Gloor (Hg.) · Daniel Kissling (Hg.) · Jan Müller (Hg.) · Adam Schwarz (Hg.)
Narr #22
Das narrativistische Literaturmagazin
Illustrationen: Tobias Gutmann
Das Narr
2017 · 162 Seiten · 12,80 Euro
ISBN:
978-3-9524355-8-8

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