In Winkeln Sterne rülpsen
Gute Literaturzeitschriften kann es nicht genug geben, gerade, weil man immer staunt, wie sie überleben. In Dresden gibt es nun schon seit elf Jahren den Maulkorb. Neben den bekannteren Schwestern Signum und Ostragehege. Und das in Zeiten, wo man in Sachen Lyrik immer mehr aufs Digitale setzt. Der Maulkorb ist, das muss gleich gesagt werden, ein ansehnliches Stück Literatur. Mit zahlreichen Grafikseiten in hervorragender Qualität und Gedichten und Texten von 28 bekannten und weniger bekannten Autoren. Sicher und ohne Spielchen layoutet von Silvio Colditz. Der 1978 in Stollberg im Erzgebirge geborene Colditz ist Gründer und Herausgeber der „Blätter für Literatur und Kunst“ in einer Person. Zwei Ausgaben jedes Jahr. Ein Kraftakt für den Mann, der eine Zeitlang als Rikscha-Fahrer arbeitete und nun Straßenfestivals, Lesungen und Ausstellungen organisiert. Aktuell ist die Ausgabe 23 des Maulkorbs.
Günter Eichs „In Winkeln spielt sich die Welt ab“ drängt sich bildhaft fast auf, denn die etablierte Literatur konzentriert sich in wenigen Zentren und die Kollegen aus den „Winkeln“ haben es immer schwerer. „Aus Winkeln/ klingt das Schweigen“ heißt es denn auch in Sigune Schnabels „dunkelfarben“. In „Deine Wege fallen mit den Meeren“ weiter ausgeführt: „wir haben die Atlanten/ von unserer Haut gekratzt“. Später „und starrst die Fremde/ von den Wänden“. Bei Andreas Koziol „Die Späße meiner Krähe“ pickt die Krähe „den Kosmos auf“ und „wenn sie rülpst, entsprühen Sterne ihrem Schnabel“. Vom Kleinem zum Großen oder von der Oberfläche ins Innere der Erde und weiter ins Digitale wie bei Sascha Kokot: „Träume aus seltenen Erden“. Es gelingt ihm mit diesem Wort das Naturbild eines Feldes in die digitale Welt abdriften zu lassen (ohne die Metalle der seltenen Erden keine Smartphones). Der sächsisch-sorbische Dichter Benedikt Dyrlich begegnet in der Prosaminiatur „Bedrängnis“ sich selbst: „In seinen abgetragenen Kleidern sah er wie ein Heimatloser aus“. Roman Israel besuchte Görlitz, so der Titel seines Gedichts, in dem er einer jungen Görlitzerin begegnet, die „so selten so selten zwischen den Welten hier her“ kommt. „In den Winkeln spielt sich die Welt ab“ – hat Eich sich geirrt? Er ist ja auch schon lange tot. Martin Piekar steigt in „Tollhaus, ein Einweisungsprotokoll“ Stockwerk für Stockwerk über den Noteingang über spiegelnde Treppen bis zum Dachboden: „Hierliegend könnte man/ Gedichte schreiben, indem man/ sich im Himmel mikroskopiert“. Jede Etage ist einem Kollegen zugeeignet. Diese Maulkorbausgabe beschließt ein Autorengespräch mit Lütfiye Güzel. Die 1972 in Duisburg geborene Lyrikerin und Slammerin zeigt darin einige überraschende Seiten wie die, dass sie nur sieben oder acht Bücher besitzt, neue verschenkt sie. Zu ihrer Lieblingslektüre gehört „Der Fänger im Roggen“, ein Kultbuch eher der Vorgängergeneration, Frauen als Lieblingsautoren kommen nicht vor. Shakespeare würde sie auch nicht auf die einsame Insel mitnehmen. Auf die Frage: Machen wir uns zu viele Sorgen um die Zukunft?, antwortet Güzel provokant: „Ja, und damit ruinieren wir uns wirklich die Gegenwart.“ Ein spannender Ansatz, auch zum Widersprechen. Wie auch die Winkel der Welt, in denen man Sterne rülpsen kann.
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Künstler*innen der Ausgabe sind Caroline Scheel, Chris Löhmann, Cornelia Franke und Eva Harut. Mit Gedichten und Kurzgeschichten von Micul Dejun, Thomas Podhostnik, Sascha Kokot, Benedikt Dyrlich, Martin Piekar, Cornelia Eichner, Norman P. Franke, Philipp Böhm, Andreas Koziol, Konrad Grüttner, Sascha Klein, Roman Israel, Sergej Tenjatnikow, Sigune Schnabel, Suse Schröder, Athanasius Wedon, Helmut Schönig, Bastian Kienitz, Marc Lunghuß, Dieter Schönecker, Barbara Rossi, Tomás Pridal, Simon Alles, Michael Hillen, Patrick Wilden, Laetizia Praiss, Mascha Golda und einem Interview mit Lütfiye Güzel.
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