„Schreiben Sie alles auf, ich bitte Sie, schreiben Sie immer alles auf.“
„Alles, was wir besitzen, kann nur im Licht der unermesslichen Verluste gesehen werden, die uns treffen.“
Diesem sehr zitierfähigen, aber recht unscheinbar im Text platzierten Satz könnte eine Art Schlüsselfunktion in Szilárd Borbélys nachgelassenem Manuskript Kafkas Sohn zukommen. Sein letztes, Fragment gebliebenes Erzählprojekt hätte ein großer Kafka-Roman werden sollen. Ein Versuch der Selbstvergewisserung und ein literarischer Orientierungslauf, beginnend bei Borbélys halbjüdischer Herkunft aus ärmlichsten Verhältnissen bis hin zur größten Katastrophe in seinem Leben, dem Raubmord an seinen Eltern. Der unermessliche Verlust, der für ihn zum unüberwindbaren Trauma wurde. Die Rolle, die Franz Kafka dabei zukommt, ist die der lebenslangen Identifikationsfigur. Bereits in seiner Jugend wurde Borbély von der Lektüreerfahrung des Proceß intensiv und nachhaltig geprägt. Nur zu gut konnte er das Gefühl der Fremdheit und des Verlorenseins nachvollziehen.
Mit Kafkas Sohn schrieb Borbély an einem Text, der über diese Identifikation hinausgeht. Ausgehend vom berühmten Brief an den Vater, der als Grundgerüst unter dem Text liegt, eröffnet Borbély ein komplexes erzählerisches Panorama, in dem nicht nur das Vater-Sohn-Verhältnis von Hermann und Franz Kafka eine Rolle spielt, sondern auch Borbély selbst sich in einem solchen Verhältnis sieht, indem er Franz als seinen literarischen Vater ansieht. Es bleibt jedoch nicht allein bei dieser Parallelisierung. Die Identifikation mit Kafka wird von Borbély noch bis zur Ineinssetzung gesteigert, wenn er etwa das berühmte Vorbild in wiederkehrenden Szenen von den Prager Brücken schauen und über einen möglichen Suizid nachdenken lässt. Dass es sich bei einer dieser Brücken um die Niklas- bzw. Čech-Brücke handelt, von der Georg Bendemann in Kafkas Erzählung Das Urteil springt, ist natürlich kein Zufall.
Borbélys Verfahren erschöpft sich jedoch in diesen persönlichen Identifikationsmustern. Er nutzt zudem die historischen Figuren aus Kafkas Umfeld, um sie zu literarischen Figuren zu machen. Aus den Schilderungen im Brief an den Vater leitet Borbély fiktive Tischgespräche und andere Rede- und Konfliktsituationen ab. Szenen, die sich zwischen Kafka und seinem Vater Hermann so vermutlich nie abgespielt haben, werden zu einer fiktiven Fortschreibung der Literaturgeschichte, die Borbély schließlich zu historischen Reflexionen über das Judentum führen. Hierfür überspitzt, überzeichnet und dramatisiert er besonders Hermann Kafka, den Borbély in mehreren Episoden Wutanfälle und Abrechnungstiraden über das Judentum in den Mund legt und ihn in seinem jüdischen Selbsthass fast in die Nähe derjenigen rückt, die für den Tod seiner drei Töchter und Millionen anderer Juden in Europa verantwortlich sein werden.
Es sind diese wiederkehrenden Szenen der Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität und dem Schicksal, bis hin zu prophetischen Szenen über die Shoa, die das große Gegengewicht zur persönlichen Leidensgeschichte Kafkas bzw. Borbélys bilden. Vielmehr verbinden sie sich zu einem vielschichtigen Geflecht, in dem nicht nur Kafka, seine Verwandten und Figuren mit Borbély, sondern auch die Zeiten vor, während und nach der Shoa überblendet oder ineinander montiert werden. So etwa in einem Gespräch Kafkas mit einem Rabbi, aus dem auch der zitierte Anfangssatz stammt. Der Rabbi, der sich Kafkas jüdischen Namen Amschel nicht merken kann, fährt fort:
„Und so gesehen wird klar, dass unsere Lage eher verzweifelt ist, als auch nur zum geringsten Optimismus Anlass zu geben. Und trotz alledem, und Sie wissen das am besten, trotz alledem müssen wir hoffen, schließlich wären auch Sie nicht hergekommen, wenn Sie nicht hofften, wenigstens auf irgendeine Antwort, wenn schon auf nichts anderes, auf eine Antwort, dass wir ein Volk der Hoffnung sind, lieber Adolf...“
Und noch in der gleichen Szene verknüpft Borbély die Rede des Rabbis vom Schicksal der Juden mit Kafkas persönlichen Konflikten und bestärkt ihn sogar im Schreiben.
„Wissen Sie, ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, jemandem erzählen zu können, dass die Hoffnung ist wie unsere Fähigkeit zu vergessen. Beide sind ein großes und gewichtiges Wissen, das aber uns Juden am wenigsten gegeben ist. Das Vergessen, meine ich. Sie sollten es niemals vergessen. Obwohl ich es Ihnen, ich lese es in ihrem Gesicht, nicht ans Herz legen muss. Schreiben Sie alles auf, ich bitte Sie, schreiben Sie immer alles auf.“
Szilárd Borbély hat weitergeschrieben, solange es ging. Kafkas Sohn hätte sein großer Kafka-Roman werden sollen, den er seinem Verleger bereits angekündigt hatte. Im Februar 2014 hätte das Manuskript abgeschlossen sein sollen, was Borbély jedoch nicht mehr schaffte. Es war der Monat, in dem er sich schließlich das Leben nahm. Ob die nun vorliegende Textsammlung sich letztlich zu einem Roman gefügt hätte, bleibt offen. Kafkas Sohn ist in seiner fragmentarischen Form jedoch mehr als ein „Blick in die Werkstatt“ oder die „Vorbereitung des Romans“. Die vom Verlag unter der frei interpretierbaren Gattungsbezeichnung „Prosa“ zusammengefassten Kapitelentwürfe, Skizzen und fingierten Briefe wirken in ihrer offenen Anordnung nur folgerichtig. Kafkas Romane Der Proceß und vor allem Das Schloß blieben Fragmente, musste es vielleicht sogar bleiben. Auch Borbélys fast schon bekenntnishafte Schrift über die Identifikation mit dem Schreiben und der eigenen Herkunft ist als geschlossene Erzählung nicht recht vorstellbar, auch wenn man ihrem Autor natürlich viel mehr Zeit für eine weitere Ausarbeitung, für weitere Bücher gewünscht hätte.
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