Kritik

Sprache ein Fließsystem

Hamburg

Der erste Abschnitt (ca. 70 von 317 Seiten), linear erzählte Kindheitserinnerungen von einem schwäbischen Bauernhof, tritt als packender autobiographischer Text auf, der ganz und gar authentisch wirkt und durchaus neben Walter Benjamins aus anderer Zeit und anderem, nämlich großbürgerlichem urbanem Milieu stammendem Bericht „Berliner Kindheit um 1900“ bestehen kann. Derartige Texte sind wichtig, um im (auch soziologischen) Blick einer anderen Biographie das Land und seine Geschichte zu verstehen. Seinen „Gedächtnisstaub“ ausbreitend betreibt Volker Demuth überzeugend seine „Archäologie des Abwesenden“. Eine neben der Fähigkeit zur Sprache erstaunliche Kapazität des menschlichen Gehirns ist es, Erinnerungen und das heißt vielfältigste sensorische und geistige Impulse und Eindrücke, einschließlich der echecs Jean Amerys, aufzubewahren. Sie bilden nicht nur die Grundlage der unverwechselbaren Identität eines Menschen, sondern beeinflussen sein Handeln, ohne dass es ihm immer bewusst wäre:

Tatsächlich begann ich im Bauernhaus der Großeltern ein Gespür für einen Ort zu entwickeln, an dem vieles verschwunden und unsichtbar geworden war, das dabei jedoch nicht aufgehört hatte, Teil und Wirkkraft der Gegenwart zu sein, selbst wenn ich mich nicht in der Lage sah, mir irgendetwas davon erklären zu können.

Auf den Erinnerungen basiert das Erzählen, das, gelingend wie bei Volker Demuth , „wie durch Bannzauber“ vermag, das endgültige Vergehen aufzuhalten. Mit verständlichem Stolz bringt der Erzähler zur Sprache, dass ebender Bauernhof wohl der Fokus des süddeutschen Bauernaufstandes 1525 gewesen ist, lange bevor ihn sein Urgroßvater erwarb. Mit dem Zitat des dritten der zwölf „haupt Artickel“ „das wir frey seyen vnd wollen sein“ der aufbegehrenden Bauern markiert der Autor seine Sympathie mit der komplizierten und von tragischen Rückschlägen gezeichneten Entwicklung hin zu einer freien, demokratischen Republik, die, sieht man von dem zu kurzen Bestehen der Weimarer Republik einmal ab, erst knapp ein halbes Jahrtausend nach 1525 nämlich 1989 für das gesamte Land Wirklichkeit wurde. Das spartanische Haus des Großvaters, man badete in einer Zinkwanne in dem im Erdgeschoss integrierten Rinderstall, „war Teil der deutschen Geschichte des Elends.“ Die Härte der am Rande der Subsistenzwirtschaft geführten Landwirtschaft teilt sich mit und ebenso die Hochachtung, die Volker Demuth für seinen Großvater empfand, der für ihn (aus Hegels Philosophie der Geschichte zitierend) „als Inbild eines beschränkten Lebens – eines Hirten, eines Bauern“ gilt, deren Leben (weiter Hegel folgend) einen „unendlichen Wert“ haben. Der Großvater kehrte aus dem I. Weltkrieg mit Verletzungen und dem Bewusstsein „des industriell-technischen Massenmenschen und seiner politisch organisierten Vernichtung“ zurück. Volker Demuth benennt die „vorsätzlich betriebene Zerfleischung von Männerkörpern“, eine überaus klare Benennung dessen, was geschah, wenn man bedenkt, dass ein Kanzler der Republik Ernst Jünger, der die angesprochenen Materialschlachten zu „Stahlgewittern“ ästhetisierte, noch 1995 mit seinem Besuch „beehrte“. Doch verschweigt Volker Demuth nicht, dass ein Onkel, den er nie kennen lernen konnte, da er im II. Weltkrieg sein Leben verlor, in die Fänge des Nationalsozialismus geriet:

Paul begann sich zu begeistern fürs Völkische, die Zucht und den uniformierten Drill. Es lag in der Luft, man atmete das ein wie im Winter den Holzrauch.

Er spricht auch an, dass von dem Bahnhof seines Wohnorts Laupheim aus 1942 wie allerorten im Reich jüdische Deutsche nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wurden. Es ist für den nachdenklichen Teil der Nachkriegsgeneration charakteristisch, dass Volker Demuth (mit vielen anderen) weiß,

„dass wir kein Gramm Bereitschaft in unserem Körperfleisch aufbewahrten, uns in eine deutsche Herkunft hineinstecken zu lassen, aus deren Winkeln uns die Fratzen des Schweigens und aus deren Rissen uns die Dämonen zahlloser Verbrechen ansprangen."

„Was mich angeht,“ so schreibt der Autor, „so waren die Stunden auf dem bäuerlichen Hof unbeschwerte Zeit.“

Einen gänzlich anderen Eindruck vermittelt der folgende lange Teil „Randlage Kleinstadt“. Der Vater hat die Übernahme des Hofes abgelehnt und den Weg gewählt, als Arbeiter in der Kleinstadt zu leben. Offenbar konnte er nicht den Gleichmut und die Zufriedenheit des Großvaters entfalten, er entwickelte sich zu einer autoritären Person, die Zuflucht in Schlagritualen suchte – ein Verhalten, wie es für die Jahre vor 1968 (und wohl örtlich darüber hinaus) nicht ungewöhnlich war:

Doch war ich, der wieder und wieder Geschlagene, in meinen Augen nicht bloß ein Bestrafter. Ich war einer, der offenbar Strafe auf sich zog, einer, der zum Geschlagenwerden da war und der daher irgendeine tiefe, untilgbare Schuld mit sich herumtragen musste.

Bezeichnend ist, dass der Psychoanalytiker Klaus Horn 1967 seine wichtige, aufklärerische Arbeit „Schlagriutale und ihre gesellschaftliche Funktion“ als Suhrkamp-Taschenbuch veröffentlichte. Volker Demuth versteht es, die von heute aus gesehen unglaublich erscheinende „Erziehung“ mittels Demütigung und Untergrabung des Selbstwertgefühls zu desavouieren, doch ist er sicher nicht allein mit seiner Erkenntnis:

Mir wurde früh klar, dass die Schicht dünn war, auf der ich durchs Dasein ging, und wenn ich durchbrach, würde ich es nur schwer schaffen, mich wieder hochzuziehen. So empfand ich das dann die meiste Zeit meines Lebens. Über diesen Jungen schreiben heißt aber nicht nur, den Geschlagenen in meinem Körper anzuschauen. Es ist auch der Versuch, sich nicht geschlagen zu geben.

Auf dem Weg zum Erwachsenen muss sich der Autor gegen die „Erinnerungverschlossenheit“ und gegen eine Sprache, die auf die Bestätigung des schlechten Bestehenden und „Realitätskomplizenschaft“ beschränkt ist, wehren, als ginge es darum, „mit bloßen Händen eine meterdicke Betonmauer zu schleifen“. Volker Demuth gelingt es überzeugend, indem er bemerkenswert offen von seinen Erfahrungen spricht, das kollektive Geschick seiner Generation der in den 1950-1960er Jahren Geborenen aufzurufen und damit zu belegen, wie notwendig, wie menschlich und wie unvermeidlich die Veränderungen ab 1968 waren, die heute als „versifft“, Libertinage und Destruktion des Wahren und Guten von der Ultrarechten und auch von Papst emeritus Ratzinger geschmäht werden. Wie war gegen die drohende Aporie anzugehen? Im ersten, in solchen Lagen immer empfehlenswerten Schritt mittels des Lesens:

Ich umgab mich fortan mit Büchern. Und nicht nur das, es konnte geradezu den Anschein erwecken, dass ich mich mit ihnen umstellte, dass ich aus ihnen Wände baute, eine Art Gehäuse aus Papier und Buchstaben.

Der nächste Schritt in der Entwicklung ist das Schreiben als Befreiung, ja als „Überlebenstrick“.

Der dritte Teil „Das Haus am Fluss“ beschäftigt sich mit der mäandrierenden Donau, an deren Ufer sich das alte Bauernhaus befindet, mit dem Garten und der Landschaft, also mit dem Ort, an dem das Schreiben stattfindet. Schreiben und der Ort lassen sich nicht voneinander trennen, „die Landschaft gehörte zum Gedächtnis der Sprache“. Das Leben am sich im Jahreslauf verändernden Fluss und in dem sich eher frei entwickelnden Garten lässt den einst Orts- und Ruhelosen ein Gefühl von Heimat empfinden, das nichts Muffiges an sich hat und sicher nicht in Konzepte des Heimatministers Seehofer passte, denn der Autor hatte nicht vergessen, dass das Dorf im 16. Jahrhundert „in seinem Menschheitskampf um Freiheit eine Niederlage hinnehmen“ musste und wusste

Die Stadt schwieg bei einem Menschheitsverbrechen, hatte tatenlos zugesehen oder sogar nach Kräften bei den Untaten mitgeholfen.“

Das Andere, sozusagen die konkrete Utopie, war für Volker Demuth der Fluss. Seine Fließdynamik überträgt sich auf Wahrnehmung und Denken des Autors:

Plötzlich erschienen mir Musik, Gedichtzeilen, das Teetrinken oder ein Film und auch Berührungen zwischen Menschen, ihre Zuwendungen und Abwendungen, als Mäander.

Im weiteren Verlauf beginnt dann auch Volker Demuths Text zu mäandrieren, die Landschaft erfüllt ihn immer mehr, bis sie ihm „tatsächlich wie eine Art Text“ vorkommt, den er zu entziffern sich bemüht. Nicht immer ist es leicht, solchen Mäandern zu folgen, etwa wenn er zu dem Schluss kommt, die Landschaft sei ein „Text, durch den du immerfort gingst.“ In den Mäandern strudeln dann auch Lyrismen auf, die vorher offenbar dem kontrollierten Schreiben weichen mussten: „Mit seinen Algorithmen fischt der ausgezeichnete Sommer die Spuren der Schwalben aus der Luft.“ Aber solche Passagen sind eher selten. Die Strudel im mäandernden Sprachfluss bringen erstaunliche Kombinationen hervor, so die Rede vom „letzten Kartoffelfeuer in Oberschwaben“ und einer konzisen, glasklaren und wirklich gekonnten Charakterisierung des historischen Entwicklungsweges unserer Landwirtschaft:

Nach der Kulturalisierung und der anschließenden Industrialisierung folgte jetzt die biokonstruktive Denaturalisierung.

Der Strudel bringt dann auch eine experimentell wirkende, sehr genau beschreibende Aufzählung der Dinge auf das Papier, die sich auf der Bühne, süddeutsch für Dachboden, des alten Hauses finden, darunter

: ein Kilogramm „Ceresan (Name gesetzlich geschützt 11975a)“ im Blechkanister, zur „Trockenbeize des Saatgutes.“

Weitere Themen sind der regelmäßige Vorbeiflug eines Reihers zu Beginn des Herbstes, die Obsession des Autors für Teeschalen aus aller Herren Länder, die ihn nach China und zu den Teegebräuchen „in Leere und Einfachheit“ und zur „Form vollendeter Eleganz, von „ya“ [雅 yǎ] führen. Es folgt das Nachdenken über den Begriff der Idylle, dann die Beschreibung der Zerstörung des Dorfes Datthausen am Ende des letzten Krieges, für das wahnhaftes Verhalten von SS-Soldaten verantwortlich war, eine weitere Schlinge des mäandernden Sprechens kommt von Neuem wieder zu poetologischem Fragen:

[…] was soll das sein, diese Mixtur aus Beschwörung und Bericht – ein Versöhnungsversuch, deine Versöhnung mit etwas Unerbittlichem, der Vergangenheit?

Die Mäander des Sprachflusses versickern langsam gegen Ende hin In „Sätze am Fluss“, die den Charakter von Fragmenten, Anfängen, Mittelstücken oder Schluss-Sätzen eines Textes haben:

Die Luft duftete von Wasser. Es war schon Sommer. Ein späterer Sommer. Und ging es mit allem nicht immer schneller?

Nun geht es auch mit der Rezension schneller, es wären noch viele Themen aufzuzählen, aber das sei der Lektüre überlassen. Auf Seite 239 fragt sich Volker Demuth: „Wie geht das Erzählen?“ Es kann genau so gehen: Von dem linearen Bericht der Autobiographie hinein in die privatmythologische Verbindung des Autors mit der mäandrierenden Donau hin zu disjecta membra, zu Fragmenten, deren schönes letztes lautet:

Warten auf die Anemonen.
 

Volker Demuth
Niederungen und Erhebungen
Matthes & Seitz
2019

Fixpoetry 2019
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge