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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Jedes Wort ist ein Pferd

Hamburg

China ist ein Land mit einer reichen Lyriktradition, trotzdem bleibt die Anzahl der in die deutsche Sprache übersetzten Werke heutiger Dichter*innen überschaubar. Daher ist es erfreulich, dass nun Zang Di mit einer Auswahl seiner Gedichte kennengelernt werden kann. Der 1964 geborene Philologe ist als Professor für chinesische Literatur an der Universität Beijing tätig und zudem Kritiker, Essayist und Herausgeber. Er hat in China unter seinem Künstlernamen Zang Di bereits elf Lyrikbände veröffentlicht, wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet und gilt laut der dem Buch beiliegenden Biografie, „als einer der bedeutendsten Lyriker der chinesischen Gegenwart“. Seine Werke wurden bislang u.a. ins Englische, Spanische und Niederländische übertragen. Erste Übersetzungen seiner Gedichte ins Deutsche erschienen 2016 in der zweisprachigen Anthologie „Chinabox“ (Verlagshaus Berlin), die von der Lyrikerin und Sinologin Lea Schneider herausgegeben wurde. Es waren mehrere Gedichte, darunter das titelgebende des aktuellen Buchs, die nun in leicht bearbeiteter Form übernommen wurden. Zusammengestellt und übersetzt wurden die Texte wiederum von Lea Schneider, diesmal gemeinsam mit dem Dichter Dong Li. Hervorzuheben sind ihre umsichtigen Zusatzinformationen. Ihr Vorwort ist informativ und gibt Einblick in den lyrischen Kosmos Zang Dis. Die Anmerkungen am Schluss des Buchs wiederum geben Auskunft über einige Entscheidungen im Prozess des Übersetzens und erklären einige chinesische Symbole und Bedeutungen.

„Gesellschaft für Flugversuche“ umspannt Gedichte, die in einen Zeitrahmen von 30 Jahren entstanden. Die meisten Texte stammen aus den Jahren 2010-2017. Die Auswahl war bestimmt keine leichte, denn das Werk umfasst „mittlerweile mehrere tausend Gedichte“.

Zang Di ist ein geradezu unheimlich produktiver Dichter. Da er seine Texte, wie viele andere chinesische Autor*innen, mit ihrem Entstehungsdatum unterzeichnet, lässt sich nachvollziehen, dass er nicht selten mehrere Gedichte pro Tag schreibt.

Der Lyriker stellt den Titeln seiner Gedichte oft den Zusatz „Aus der Reihe:“ voran, z.B. „Aus der Reihe: Die Geschichte der Narzissen“, oder hängt die Beifügung „Eine Einführung“ an, etwa „Das Paradies von Yunnan. Eine Einführung“. Er suggeriert damit das Vorhandensein einer Serie, wobei es sich meist um zusammenhanglose Texte handelt, die für sich stehen, die aber einige motivische Verbindungen aufweisen.

Man kann die Auswahl grobschematisch in zwei Sektionen teilen. Es gibt Texte, die thematisch in Asien verankert sind, zumeist in China, selten in Japan. Sie gehören zu den komplexeren Beiträgen des Buchs setzen sich mit Städten und Landschaften auseinander, widmen sich kleinen Dingen, Beobachtungen und Überlegungen, zeichnen Momentaufnahmen und Reisen nach, greifen wie nebenbei philosophische Fragen auf und setzen subtil auch politische Anmerkungen, die Zang Di manchmal mit einer Prise Ironie würzt. Zudem erfreut der Dichter durch seine Kunst der aphoristischen Zuspitzung.

Auf der anderen Seite fällt eine starke Orientierung gegen Westen auf, hier insbesondere hin zu Europa. Der Lyriker ist offen für die Welt und reist viel. Als Student hat er begonnen, „sich die vielen Teile der Weltliteratur zu erlesen“, aus der er nun eine Fülle von Zitaten und Anspielungen in die eigenen Texte aufnimmt. Im Vorwort heißt es dazu:

Beide Ansätze – das programmatische Interesse für die vermeintlich banalen Gegenstände und Situationen des Alltags und die ebenso programmatische Internationalität seiner zahllosen Zitatquellen – bestimmen Zang Dis Poetik bis heute.

Das Gedicht „Gesellschaft für Flugversuche“ gibt Zeugnis von seinem Ringen um die eigene Stimme zwischen den Stimmen chinesischer Dichter zur Zeit der Tang- und Song-Dynastie und westlichen Dichtern des 20. Jahrhunderts wie Paul Celan, Jehuda Amichai und Thomas Tranströmer. Zang Di thematisiert zudem in mehreren Texten die Auseinandersetzung mit dem Wort und das/sein Dichten, etwa in „Aus der Reihe: Aufsteigen, / wie es die Schneeberge tun“:

... Im Papier gibt es ein kleines Loch: das / Gedicht. // Weil es dieses Luftloch gibt, kannst du weiter sehen als ich.

Interessant, dass in den Texten dennoch nur wenige chinesische Dichter genannt bzw. zitiert werden – es mag an der Auswahl liegen –, dafür zahlreiche europäische und amerikanische (Patrick Modiano, Bohumil Hrabal, Emily Dickinson etc.). Zudem irritiert die Deutschlandlastigkeit, denn neun Texte stellen Hamburg, Berlin und Bremen in den Mittelpunkt, als ob von einem chinesischen Dichter nichts interessanter wäre, als seine poetische Auseinandersetzung mit Aufenthalten in deutschen Städten, mit dem also, was er über „uns“ zu sagen hat und was man ohnehin mehr oder weniger kennt.

Motivisch arbeitet Zang Di gern mit Dichotomien. Es sind vor allem die Paarungen Licht – Dunkelheit (Schatten, Nacht) bzw. schwarz – weiß, die er mit Beispielen aus der Natur bildhaft verstärkt, etwa mit Schnee, Elstern, Staren und Raben. In zahlreichen Texten greift er das Thema Tod auf und variiert es. „James Baldwin ist tot“ ist der Titel des ersten Gedichts, entstanden im Dezember 1987. Es bildet eine stimmige Klammer zu den beiden letzten Gedichten, ein poetisches Requiem, das im Oktober bzw. November 2017 entstand, nach dem Unfalltod von Zang Dis Sohn, in dem der Vater seinem Schmerz stimmig nachspürt. Das Motiv Tod ist auch in anderen Texten präsent und poetisch verdichtet, überzeugend etwa nach einer Operation des Vaters in „Aus der Reihe: Notwendige Engel“, in dem es u.a. heißt

Das Gefühl jeden Moment auseinanderzufallen;
das Gefühl, zwischen den Macken der Dunkelheit
ein neues Gleichgewicht zu suchen – das Gleichgewicht
des Körpers, das Gleichgewicht der Wellen,
das unmittelbar anschließende Gleichgewicht der Sprachen
und das Gleichgewicht meiner Tränen, wie ich
als Sohn vor einem Bett in einem Krankenhaus stehe, ...

oder im Gedicht „Zitronen. Eine Einführung“, in dem der Vater in einem Krankenhaus im Sterben liegt. In der letzten Zeile dieses Gedichts heißt es dann

ist der Tod nicht mehr als ein Requisit.

Dieses Eindrucks kann man sich leider manchmal nicht erwehren. Denn in etlichen Texten werden abnutzte Formulierungen und Bilder verwendet, etwa „der Tod wird klüger sein als du“, oder prosaähnliche Erklärungen und Einschübe wie „was den Tod betrifft ...“. Zang Dis Hang zu Schlagworten bzw. Verschlagwortungen setzt sich auch mit anderen Nomina fort. Zu den am häufigsten verwendeten Begriffen gehören Welt, Wahrheit und Körper, die hier zuweilen als Plattitüde eingesetzt werden, z.B. „Zu viele Wahrheiten sind älter als wir“, „in einem Strudel aus Wahrheit“ usw. Außerdem gleitet der Lyriker redselig gern in banalphilosophische Erklärungen ab. Man folgt ihm lesend und wünscht manchmal, er möge weniger plappern, beispielhaft: „Was ich damals eigentlich / dachte, war ...“, „Eigentlich habe ich grundsätzlich nichts dagegen, ...“ oder „völlig egal“, und weniger Füllsel verwenden wie „soll heißen“, „eher ist es hier so“ oder „vermute ich mal“. In einem Gedicht heißt es metaphorisch „Jedes Wort ist ein Pferd“, aber muss er, um bei diesem Bild zu bleiben, mit einem Teil der Herde gleich alles niedertrampeln?

Ein einziger Text – und hier kann ich nur persönlich argumentieren – ist mir schier unerträglich. Er trägt den Titel „Tod durch Ersticken. Eine Einführung“, das mit den folgenden Versen beginnt:

Falls du dir nicht vorstellen kannst,
wie man einen zehnjährigen Jungen bestraft,
der in der Schulkantine ein paar Brote klaut, ...

Es ist ein Text, der sich an ein „du“ wendet, das vermutlich ebenfalls zehn Jahre alt ist, und diesem Kind „eine primitive Lust / am Lynchen“ beschreibt, eine stundenlange Folter durch Lehrer, die mit dem Tod des Diebs am nächsten Morgen endet. Das Gedicht stellt zur Schau, bedient eine „primitive Lust“ am Voyeurismus, ohne allerdings mehr zu leisten als abzubilden. Es gab, gibt und wird auch in Zukunft solche Vorkommnisse in der Welt geben, die roh, entwürdigend, menschenverachtend sind und es gibt Menschen, die bereit sind, das zu gern lesen. Wie es ja auch Rezipienten gibt, die sich Videos reinziehen, in denen Menschen geköpft, gefoltert, missbraucht werden. Ich gehöre nicht dazu. Ja, ich kann es mir vorstellen, meine Fantasie reicht aus, aber ich brauche dazu keine „Einführung“ und nicht die simple Vorführung durch eine Boulevarddichtung, die sich von sensationslüsternem Journalismus oder einem Stammtischgespräch allein durch die Brechung in Verse unterscheidet.

Zang Di
Gesellschaft für Flugversuche
aus dem Chinesischen von Lea Schneider und Dong Li
Edition Lyrik Kabinett bei Hanser
2019 · 104 Seiten · 19,00 Euro
ISBN:
978-3-446-26393-2

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