Man berauscht sich am eigenen Blut
Der Istanbuler Journalist Ibrahim erfährt während einer Redaktionskonferenz, dass der wie er aus Mardin stammende Hüseyin in den USA von Rechtsradikalen brutal ermordet wurde. Und nach kurzer Nachforschung stellt sich heraus: Es handelt sich tatsächlich um Ibrahims Freund aus Kindheitstagen. Da sich niemand bei der Zeitung so recht für den Fall interessiert, fliegt Ibrahim in die nahe der syrischen Grenze und des Sindschar-Gebirges gelegene Stadt und begibt sich auf eine Reise in seine eigene Vergangenheit und zugleich auf eine Reise ins Auge des Sturms. Denn nahe Mardin befindet sich ein riesiges Flüchtlingslager, in dem die vom Islamischen Staat verfolgte Eziden Zuflicht gefunden haben. Die Stadt, in der er aufgewachsen ist, erkennt er kaum wieder. Der Alltag ist geprägt von religiösem Fanatismus und IS-Anhängern, die Andersdenkende bedrohen.
In seinem neuen Roman „Unruhe“ (übersetzt von Gerhard Meier) taucht Zülfü Livaneli tief ein in die verheerenden Konflikte unserer Zeit und gibt ihnen ein zutiefst menschliches Gesicht: In Mardin arbeitete Hüseyin als Helfer im Flüchtlingscamp. Von einem Hügel nahe der Stadt sind die Lichter des syrischen Qamischlu zu sehen, einen Steinwurf entfernt. Man erinnert sich an die furchtbaren Szenen im Jahr 2014, als der IS Kobane belagerte und die türkische Armee die Terroristen gewähren ließ, sie sogar die Grenze passieren durften, während auf kurdische Flüchtende geschossen wurde.
Hüseyin verliebt sich in die Ezidin Meleknaz und will sie heiraten, doch die Fanatiker in Mardin verüben einen Anschlag auf ihn, weil ihnen eine Ehe zwischen einem Muslim und einer Ezidin zuwider ist. Ibrahim begibt sich auf Spurensuche und verzweifelt immer mehr an dem Irrsinn, den Menschen aus religiösen Gründen fabrizieren. Er erfährt Meleknaz' verstörende Geschichte: Wie sie von IS-Kämpfern entführt und zusammen mit ihrer achtjährigen Schwester monatelang vergewaltigt wurde, bis sie schließlich flüchten konnte und Hüseyin kennenlernte – der dann seinerseits vor dem IS zu seinen Brüdern flüchten musste, die ausgerechnet in den US-Südstaaten leben, wo ihn rechtsradikale Islamhasser ermorden.
Livaneli geht es auch genau darum, zu zeigen, dass zwischen Islamisten und Rechtsradikalen kein wirklicher Unterschied besteht. Ihre Geisteshaltung und ihr unbändiger Hass auf „die Anderen“ ist deckungsgleich. Es geht ihm um den Irrsinn, sich am eigenen Blut zu berauschen, indem man sich gegenseitig aus völlig hanebüchenen Motiven, sei es nun Glaube, Hautfarbe oder sonstwas, tötet. „Was der IS hier angefangen hat, haben diese Faschisten da drüben vollendet, das heißt, muslimische Gotteskrieger und Neonazis haben zusammen ein Verbrechen begangen. Ob man als Mörder ein Kreuz um den Hals hängen hat oder einen Halbmond, wo ist da bitte der Unterschied?“ fragt Hüseyins Bruder nach dessen Beerdigung.
Fixpoetry 2018
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben