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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Ein ängstlicher Lehrling von Spiderman

Hamburg

Dass aus Lateinamerika eine Menge erstklassiger Literatur kommt, ist seit langem jeder LeserIn der restlichen Welt klar. Dass Schlagworte wie Magischer Realismus sofort anschlagen auch. Dass lateinamerikanische Literatur zugleich aber auch völlig frei, losgelöst davon operieren kann (und erfolgreich ist), ist eher neu. Als eine Art Übergang, sicherlich auch durch die Exilsituation eines Bolaño oder Junot Díaz, hat es in den letzten Jahrzehnten eine deutliche Abkehr oder bewusste Verweigerung einer solchen, das Surreale mit dem Realen, das Nationale mit Individuellen verwebenden, M.R.-Epik gegeben, deren einstige Paten wie Vargas Llosa auch zum Teil noch leben oder aber von Einzelstimmen wie César Aira oder Samanta Schweblin abgelöst worden sind. Im Fall von Alejandro Zambra, wie Bolaño aus Chile, scheint sich eine völlige Emanzipation dieses markt- und klischeetauglichen Begriffs vollzogen zu haben. Mehr noch, Zambra bringt in seinem neu auf Deutsch erschienenen Buch Ferngespräch die Uralt-Gattung Kurzgeschichte in eine kaum für möglich gehaltene (weltweit) frische Zone. Es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit, wann Zambra Weltgeltung hat (vielleicht hat er sie längst – Europa ist nur einmal mehr schwer hinterm Mond). Das bei Suhrkamp vorgelegte, Stories untertitelte Buch jedenfalls ist ein Knüller.

Vorab sei die Bemerkung gestattet, dass je mehr der Verlagsunsitte gefolgt wird, buchkünstlerisches Handwerk mit marktschreierischen, angeblichen Zitaten auf dem Umschlag zu überdrucken (hier von wegen "...schreibt die neueste Weltliteratur", "Alle reden nur noch von...", "...ein riesiges Vergnügen" und "...ich freu mich einfach für die Zukunft der Literatur" – das hat mit dem, für das Suhrkamp einmal gestanden hat, nichts mehr zu tun), desto weniger wird Vertrauen in die Kraft der Texte und die Fähigkeiten ihrer Leser gesteckt (traurig, unnötig) und ist Bücherlesen zu 99% einer vom Geld besessenen Industrie anheimgefallen. Aber lieber heraus aus der Autobahnwelt mit Werbeschildern und hinein in Zambras Welt.

"Yasna hat ihrem Vater in die Brust geschossen und ihn dann mit dem Kopfkissen erstickt. Er ist Sportlehrer gewesen, sie ist gar nichts, niemand. Jetzt aber schon, jetzt sie jemand, der getötet hat, jemand, der im Gefängnis sitzt. Jemand, der auf seine Essensration wartet und an das Blut des Vaters denkt, dunkel und zähflüssig. Aber darüber schreibt sie nicht. Sie schreibt nur Liebesbriefe.

"Nur Liebesbriefe", als wäre das wenig.
[...]"

So beginnt die Story Gedächtnisübung. Alle Elemente Zambrascher Schreibkunst sind da. Er ist schnell, handlungsorientiert und leicht, ohne tiefganglos zu sein. Er ist leicht durch benennen und weiterhüpfen. Seine Charaktere sind gekennzeichnet durch ein beständiges Ändern ihres Zustands, der Progression ihrer Umstände und oft auch dem bloßen (schnellen) Agieren, wie bei einem Krimi. Weil Zambra auf alles weitere verzichtet, insbesondere auf das Beschreiben, um nicht zu sagen Beschwören einer Atmosphäre, sind seine Stories nicht nur klischeelos zugänglich vom ersten Satz an, sondern schon im selben Moment fesselnd und spannend bis zum Schluss. Man hat alle Freiheiten, die Bilder, die Zambra aufbaut, selbst zu erstellen/ bevölkern, parallel beim Lesen mitzuführen, und er belohnt mit plötzlichen Ausbrüchen in detaillierte Schilderungen und ausgeprägte Dialoge, die die eigenen Erwartungen konfrontieren, bestätigen oder verdutzt hinter sich lassen. Es ist virtuos. Zum Beispiel in der Privatschulgeschichte um eine Klasse, deren Schüler aus Nummern bestehen (Nummer 67 hat seine Hausaufgaben vergessen etc.) und in dem Moment, indem an der Tafel ein Pinochet-kritisches Gedicht auftaucht und der Lehrer provokant in die Klasse blickt, haben alle Schüler Namen (José meldet sich und sagt etc.). Es ändert weder die Handlung, noch die Progression, ein simples Detail, ein erzählerisches Auszoomen in einem einzigen Satz, und ein großes Bild tut sich beim Lesen auf. Zudem besitzen seines Stories, jede einzelne, ein schier unendliches Reservoir außerordentlich komischer (=lustiger) Stellen, so geschickt gestreut, dass Zambra niemals als Satiriker rüberkommen würde, sondern im Gegenteil als ein traumwandlerisch sicherer Autor existenzieller Schicksale.

"Für meinen Vater wiederum war Camilo, wie mir scheint, weniger ein Patensohn, sondern ein Begleiter geworden, ein Freund, er ließ sich sogar von ihm duzen. Bis spätnachts saßen sie im Wohnzimmer und redeten über alles Erdenkliche, bloß nicht über die Existenz Gottes, denn Zweifel daran, ließ mein Vater nicht zu, und auch nicht über Fußball, denn Camilo war das erste männliche Wesen meiner Bekanntschaft, das nichts für Fußball übrig hatte: Camilo verstand nicht einmal die Regeln. Ein Klassiker war die Geschichte von der einzigen Partie, die er in seinem Leben gespielt hatte, mit fünf Jahren, in einer Turnhalle in San Miguel. Da er bis dahin vom Fußball nur die Zusammenfassungen der Tore im Fernsehen kannte, rannte er an dem Nachmittag bloß hin und her und feierte nie geschossene Tore, winkte freudig ins Publikum und kümmerte sich nicht im Geringsten um den Ball."

Einige der Stories sind aus der Ich-Perspektive erzählt. Im zunehmenden Verlauf verwischt diese Perspektive, aber Zambra kommentiert, für die heutige Zeit unüblich, im allwissenden Erzählmodus trotzdem in jedem Absatz die Handlung, sodass das Gefühl entsteht, Zambra oder ein alter-Zambra erzählt eigentlich durchgehend. Man liest, lacht, vor allem staunt. Über den Einfallsreichtum, die Kabinettstückchen und das völlige Fehlen von Referenzen. Zwar fallen Bolaño-ähnlich immer wieder (Dichter-) Namen wie Líhn, Parra etc., doch es könnten genauso gut andere sein. Es ist kein Schatten bei Zambra. Er schafft sich jedes Bild selbst.

"Ich schlage die Zeitungsbeilage auf und lese "einsames Weihnachtsfest", wo eigentlich "gemeinsames Weihnachtsfest" steht. Weshalb überhaupt Weihnachten, frage ich mich, es ist doch noch lange hin.

Mir scheint, wir steuern auf eine Scheißwelt zu, in der Diego Torres alle Lieder singt und Roberto Ampuero alle Romane schreibt. Eine Welt, in der einen nicht einmal der Nachtisch zuversichtlich stimmt, denn es gibt nur eine randvoll gefüllte Riesenschüssel mit widerlichem Milchreis.

Ich bin ein Berichterstatter, wüsste jedoch gern, von was."

Die Stories drehen sich gerne um Schule, Erwachsenwerden, Jobs, Beziehungen in der Schwebe oder grotesken Abhängigkeiten, das Leben unter oder post Pinochet und dann kommen Fußball, Katzen, ein PC und Sex dazu. Von einem Satz auf den nächsten – die alle zugänglich und leicht zu verfolgen sind – springt Zambra in eine völlig neue Situation oder wechselt den Blick auf das soeben Geschehene oder landet in einem seitenlangen Witz über den verfrorensten Menschen der Welt zum Beispiel. Im Film erinnert dieses Verfahren ein wenig an Godard, aber Zambras besondere Kunst besteht darin, nicht zu improvisieren (es sieht jedenfalls nicht danach aus), sondern alle Fäden (auch die Witze und Abschweifungen) essentiell zu nehmen, wiederaufzugreifen und zu Ende zu führen. Ferngespräch liest sich wie im Rausch und da sich keine zwei Stories gleichen, sind Wiederholung, Langeweile oder überhaupt Längen Fehlanzeige. Der Band ist phänomenal. Tatsächlich ist es erst die dritte Veröffentlichung des Chilenen auf Deutsch. Ihm vorauseilen die beiden Romane Erfindung der Kindheit und der immens erfolgreiche, auch verfilmte Bonsai. Daneben gibt es aber noch einen weiteren Roman, einen Essayband und drei Gedichtbände, der Übersetzung harrend. Also wohl denen, die seiner Fangemeinde angehören. Suchtpotential.

 

 

 

 

 

Alejandro Zambra
Ferngespräch
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Suhrkamp
2017 · 237 Seiten · 22,00 Euro
ISBN:
978-3-518-42595-4

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