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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Knochen und Missionare

Hamburg

Eine ganze Weile galten Verbote in der Literatur – man berief sich dabei gerne auf Adorno, der freilich dort, wo diese Restriktionen wie neue positive Regelwerke gehandhabt wurden, schwerlich einverstanden gewesen wäre, ihm ging es doch um Stimmigkeit: und Konventionen betreffend letztlich um deren „Selbst-Verbot”, „das Gesetz ist verboten”, wie Derrida formulierte.

Vergleicht man nun zwei unlängst erschienene Texte, versteht man rasch, warum dies so ist; denn Wolf Hass’ 2012 erschienene Verteidigung der Missionarsstellung operiert gekonnt mit genau jenen Verboten, er erzählt, indem er oft gerade nicht erzählt. Wird dies aber zur Regel, wird sein Buch langatmig und witzlos, ohne Substanz aus dem Prinzipiellen zu ziehen. Es hat unendlich viel Witz, wenn bei ihm der Text „abbiegt”, wie es die Romanfigur tut, es ist erquicklich, einen Flirt im Irrealis zu lesen, worin man vieles gesagt hätte, Phantastisches, während eine Ebene darunter das nüchterne Reale sich entspinnt, von Ungesagtem gleichwohl belebt. Auch die Dekonstruktion der „Liebespflicht” und die diskursiven Passagen, worin etwa erläutert wird, warum die Missionarsstellung als Kultivierung von erlesener Perversion sein müßte (aber ist es nicht pervers, und zwar wörtlich, sich dem Antlitz des Sexualpartners ganz unanimalisch zuzuwenden, nicht a tergo die Triebabfuhr zu vollziehen?), sind lesenswert. Doch das Spiel mit unlesbaren Texten wird zuweilen doch mühselig, wenn nicht bloß manchem fremde Zeichensysteme auftauchen, sondern der Text sich verkleinert, bis man seitenlang Linien sieht. Witzig? Nur irgendwie, irgendwie aber auch mühsam – und ob es Kunst ist, wenn das Wort „irgendwie” so passend ist, weil die Beliebigkeit von Verfahren, die man spätestens seit den Avantgarden kennt, sich auftut..?

Das Buch ist also dort mißlungen, wo es folgsam die Verbote exekutiert. Das überrascht letztlich nicht.

Evelyn Grills Der Sohn des Knochenzählers dagegen, das 2013 (also soeben) erschienen ist, kümmert sich um Verbote nicht – oder verbietet sie sich eben. Und das Resultat ist ein Roman, der mit einem Narrativ aufwartet, aber in leiser Devianz Seite um Seite beweist, daß Literatur eben nichts exekutieren soll, nichts beweisen muß: sondern Literatur zu sein hat, was nun viel zu einfach klingt...

Das Negative hier ist präsent, es sind die Schatten und die Verschattungen, die Grautöne und Schattierungen, die über allem liegen, wie unter allem die Toten, die die einzige Konstante sind: Identität und Tod sind einander verschwistert. Die Lebenden versuchen, dem Faktischen hier zu entrinnen oder es zu domestizieren, etwa durch Knochenzählen. Der Knochenzähler ist der Wissenschaftler eines Ortes mit einem Institut, wo nach Ende des Salzabbaus die Geschichte die Gegenwart wurde. Ob es sich um Halstatt, Bad Reichenhall oder Halllein handelt, verkleinert und abstrahiert, tut wenig zur Sache, das Tote ist die Lebensquelle, pervertiertes Zombietum sozusagen. Eine Tote aber ist verschwunden – ist sie tot? –, die Frau jenes Akademikers, dessen Sohn indes unbeweglich im Dorf sitzt, anstatt zu studieren. Was er studiert, sind allenfalls seine Hamster, die das Paradigma gescheiterter Männlichkeit sein dürften; außerdem sind sie von einer bescheidenen Lebenserwartung, einer von „zwei Monaten”, der Tod ist hier überall, aber das Sterben nicht immer Fatum. Man kann nichts Irreales lieben, wie es scheint, aber das Reale ist hier (fast) schon tot, nekrophil ist dieses Ensemble von Zerfall, es ist gar nicht denkbar, daß es anders wäre, nicht des Orts wegen, wie man oft spürt. Bestenfalls ist Liebe antizipatorisch nekrophil, vielleicht... Eine Totengräberstelle bekommt der Sohn, der so immobil ist. Und diese Stelle läßt die Mutter im Roman auferstehen. Am Ende steht ein Doppelgrab, mehr sei nicht verraten.

Der Weg dahin ist klar erzählt, mit Wendungen, die an Bernhard oder Lebert erinnern mögen, doch immer ganz jene Grills sind – und das ist Literatur. Zuletzt ist hier nichts beliebig, wohl aber gegen jedes Verbot vielleicht verstoßen worden, und zwar auf wunderbare Weise. Wer schreibt noch Kriminalromane? – Was aber ist zu schreiben, wenn nicht solche, worin der Roman das crimen, die Unterscheidung betreibt.?

Evelyn Grill
Der Sohn des Knochenzählers
Residenz
2013 · 136 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-701716050

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