Die Wilde Jagd
Fred Vargas greift wieder tief in den Geschichtentopf und macht daraus in „Die Nacht des Zorns“ wieder einmal eine wunderbare neue Geschichte.
Dass die Geschichten nicht ausgehen, demonstriert der Buchmarkt in jeder Saison aufs Neue, auch wenn sich in manchen Genres Immergleiches anzuhäufen scheint. Davor ist nichts und niemand gefeit. Selbst die Großen des Fachs scheuen nicht davor zurück, sich auch einmal zu wiederholen, schon allein um der Kreativität ein wenig Schonung zu geben. Dennoch bleibt es wahr, es gibt immer wieder neue Geschichten und sie gehen nie aus. Und es gibt immer wieder neue Autoren, die es schaffen, das gewöhnliche Lesersuchtverhalten zu erzeugen und wach zu halten. Das sind dann die Autoren, über deren jeweils neues Buch man sich freut, unter anderem weil man weiß, was man bekommt und doch etwas anderes erwartet als beim letzten Mal.
Auch solche Autoren haben Saison. Und im Moment hat unter anderem Fred Vargas Saison. Die französische Autorin hat nun bereits mehr als ein Dutzend Bücher auf den deutschen Markt gebracht, die Mehrzahl von ihnen Krimi, an denen dann der Aufbau-Verlag sein Geld verdienen mag. Es sei ihm gegönnt, denn immerhin gönnt er uns Fred Vargas.
Schrullig absurd mag man Vargas‘ Ansatz nennen, mit dem sie sich einigen Erfolg gesichert hat. Aber wenns funktioniert?
Sie hat einen Ermittler, der nicht analytisch denkt und sich lieber mit abseitigen als allzu profanen Fällen abgibt, ein Ermittler, der lieber plaudert als verhört, der einer tödlich Geschwächten lieber absurde Geschichten vorliest, als seine eigene Haut vor den Nachstellungen der Mächtigen dieser Welt zu retten. Der Zusammenhänge konstruiert, sie aber – wenns schlecht läuft - nicht beweisen kann. Und der aus einer jener Provinzen Frankreichs stammt, wo es nicht mit rechten Dingen zugeht.
Dieser Kommissar Adamsberg wiederum hat Kollegen, die sich in ihren jeweiligen Absonderlichkeiten zu verirren drohen: Veyrenc, Danglard, Retancourt unter anderem, jeder und jede von ihnen ist eine eigene Geschichte wert, die ihnen Vargas auch gerne gönnt. Adamsberg braucht sie allesamt, so seltsam sie auch sein mögen. Es gibt genug Fälle, in denen sie genau die Richtigen sind, um ihm hilfreich zur Seite zu stehen.
Aber nicht nur merkwürdige Helden, auch merkwürdige Geschichten kennzeichnen Vargas‘ Krimis: Für sie steigt Vargas stets auch in die Tiefen historischer Mythen und in die an Grausamkeiten reiche französische Geschichte. Sie kombiniert das mit einer Gegenwart, die ihre Anachronismen offen vor sich herträgt. Familien, die die Schuld und die Last der Vergangenheit zu tragen haben. Ereignisse, die auf eine ferne, mythische Vergangenheit zurückzuweisen scheinen, auch wenn am Ende ein sehr gegenwärtiger Täter verantwortlich ist.
Unerklärliche Fälle, die nur mit dem Wissen um eine lang zurückliegende Vergangenheit zu klären sind, zumindest mit dem Wissen darum, dass wir ohne diese Vergangenheit nicht das wären, was wir heute sind oder sein wollen.
Eine Frau, die in der Normandie lebt, Madame Vendermot, kommt zu Adamsberg und bittet ihn um Hilfe. Ihre Tochter Lina hat die Wilde Jagd gesehen, das Wütende Heer, das erscheint, wenn es ungesühnte Verbrechen gibt. Allerdings gibt es immer nur einen Menschen, der sie sehen kann - in diesem Fall eben Lina -, und zugleich diejenigen, die von der Wilden Jagd mitgeschleppt werden.
Verschleppt werden nämlich diejenigen, deren Verbrechen ungesühnt geblieben sind, auf dass sie ihre Strafe erwarten mögen. Und so wird denn auch bald danach der eine nach dem anderen umgebracht, auch wenn die Geschichte glauben macht, dass diejenigen, die mit der Wilden Jagd gesehen werden, die Chance haben, ihre Tat noch zu sühnen, um ihrem Schicksal zu entgehen.
Madame Vendermot nun kommt zu Adamsberg, weil einer der vier Männer in den Fängen des Wütenden Heers verschwunden ist. Und sie ist sich sicher, dass er tot ist, was sich naheliegender Weise auch bestätigt, so wie sich auch das Schicksal derer erfüllt, die Lina in den Fängen der Wilden Jagd gesehen und erkannt hat.
Allerdings beschäftigen Adamsberg neben diesem mysteriösen Rückgriff auf ältere Geschichten zwei weitere Fälle: der Tod eines Industriellen, der im Streit mit seinen beiden Söhnen lag. Und die Misshandlung einer Taube, der irgendwelche Tierquäler die Beine zusammengebunden haben, was Adamsberg wirklich empört.
Im Fall des Industriellen macht ihn vor allem misstrauisch, dass allzu schnell der Schuldige gefunden ist, ein junger Mann, der immer wieder Autos anzündet, aus Protest. Nur, was will man machen, wenn die möglichen Schuldigen Einfluss haben und die Ermittlungen behindern?
In beiden Fällen sind die Ermittlungswege – sagen wir – unkonventionell, eine Steigerung des antirationalistischen Verfahrens, zu dem die Laborserien im Krimigenre den Gegenpart darstellen. Hier sind nicht einmal Motiv und Gelegenheit zentral, sondern es kommt auf eine Erkenntnisform an, die nicht einmal intuitiv zu nennen ist. Ein Unding, mit der Rechtfertigung, dass es funktioniert, und das ein weiteres Mal, und vor allen Dingen wunderbar.
P.S.: Der deutsche Titel ist furchtbar.
Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben