Gleich welche Jahreszeit
30.05.2014 / Der Schriftsteller Jürgen Becker bekommt den Georg-Büchner-Preis 2014. Das teilte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt mit. FIXPOETRY gratuliert! Näheres in der Fix Zone.
Jürgen Beckers neuer Band Scheunen im Gelände nähert sich dem Naturraum mit einem urbanen, abgeklärten, weitgereisten Blick. Es geht um genaues Hinsehen, um die Bruchkanten und Mischverhältnisse, und wenn sie nicht kalt herauszupräparieren sind, so doch anzusprechen, zu vergegenwärtigen. Das Gedicht Gleich welche Jahreszeit eröffnet mit den Versen: „Die Schichten des Waldes, dazwischen, / mitten im Winter, eine Schneise des Sommers, / Das Anderswo einer möglichen Landschaft, / die sich vom Schnee getrennt hat.“ So gegenständlich und angeschaut, so handfest, muss man die Virtualität aller Landschaft, das Gerinnen im Inneren aller äußeren Vorgänge und Anblicke erst einmal auf den Punkt bringen.
Aus solchen Details entsteht die Präsenz der Ahnung und die Dringlichkeit der Latenz, die im ganzen Band spürbar bleibt. Das genaue Sensorium kennzeichnet einen produktiven Dichter: Auf der Homepage des 1932 in Köln geborenen Becker werden unter dem Programmpunkt „Auswahl der wichtigsten Publikationen“ immerhin 34 Titel aus dem Zeitraum zwischen 1964 und 2009 aufgelistet. Nicht nur, weil Scheunen im Gelände nun zu Beckers 80. Geburtstag erschienen ist, lässt sich sagen, dass der Band nicht aus 81, sondern aus 80 und einem Gedicht besteht. Das letzte Gedicht, Was man uns sagte, ist durch seine imposante Länge von 239 Versen von den ansonsten vorwiegend kurzen Texten abgesetzt. Zudem hat es den Charakter einer Summenformel, in der sich kaleidoskopisch zusammenzieht, was den Band bestimmt hat: das sind die zeitlichen Koordinaten der Erinnerung und die räumlichen Rahmen der Landschaft.
Der Band versammelt zum Großteil ländliche Texte. In der genauen Beobachtung der Landschaft, den leichten Veränderungen der Details über Jahrzehnte hinweg oder im Kreislauf der Jahreszeiten, konturiert sich das Ich, das beobachtet. Der Landschaft kommt die Funktion zu, das Ich als gestaltend und entwerfend zu zeigen, zugleich geschluckt von der Erinnerung, während die Fläche geschluckt wird von Zeit. So heißt es im eröffnenden Gedicht Programm mit Wiederholungen: „Der Landschaftsentwurf. / Man wählt eine andere Farbe; es fallen einem Namen ein, / Kreideschriften, weggewischt von einem Schwamm; man hört, / wie der alte Wecker getickt hat.“
Wie eng das Ich und die Landschaft verkoppelt (oder vielleicht gar: verkuppelt) sind, zeigt sich entsprechend vor allem im Vorgang des Erinnerns: „die Ränder / der Landschaft dehnen sich aus, wenn die Erinnerung / mitmacht und den Rest der Geschichten / aus ihrem Schlaf holt.“ In der Landschaft findet sich zuletzt auch jener Kern von Selbstidentität, die dem in Zeit zerfaserten Ich stets zu entgleiten droht: das soeben zitierte Gedicht Zurück im Norden hebt mit dieser Bestimmtheit an: „Die Pappelreihen gibt es.“ Oder anderswo: „Ein greifbares Motiv, die Nähe der Scheune.“ Manches scheint fest zu bleiben, aber das Flimmern des Herbstes „im Lichtwechsel, unterm Geschiebe der Wolken“, nährt sich doch in fernen Anklängen an Clemens Brentano (gerade hier, jene Stelle aus der Legende von der Heiligen Marina: „Wo Durst gewähnt des Wasserfalles Spiegel / Fand Liebe ein Geschiebe Fraueneis.“), und kaum ein Dutzend Gedichte später liest man in Mitte August: „Die Gegend / glaubt man zu kennen. Nur / weiß ich nicht, was es ist, / daß ich nicht aufhören kann, auf die Scheune zu starren“. Mit dem Zweifel ist die Glätte des Verses, wo sich Gewissheiten einschleichen wollen, haben sie die Nervosität der Enjambements auszuhalten.
In Scheunen im Gelände herrscht ein völlig ausgeruhter Ton. Die Repoussoirfigur dieser Gedichte scheint alle Eile abgelegt zu haben, ausgeschlafen ist sie und hellwach. Kurze, ruhige Sätze. Keine Manierismen, auch wenn der Ton so eigen ist, wie es das experimentelle Scheibenschießen der Manierismen anzielt. Gewiss könnte man den Ton auch mürbe nennen, in gemittelter Lage, in der reduzierten Palette kaum erkennbarer Zauber: aber er ist doch da, deutlich spürbar. Die kurzen, ruhigen Sätze akzentuieren ihre Zwischenräume, ihren Gehalt. „Möglich, daß im Schilf die Boote liegen, / wenn es denn Boote gibt“. Aufrufen, zerfragen, zerdenken: dass und wie das in solcher Ruhe geschieht, darin wohnt die Betörungskraft auch des Nüchternen. Das ist die große Bestimmtheit, Festigkeit des Stils, souverän geschrieben, ohne zu erstarren. Michael Krüger spricht in seinem Nachwort gar von einer „parataktischen Methode“.
Und nicht zuletzt arbeiten die Sätze greifbar in ein Schweigen hinein, in dem (vergleichbar einer Generalpause im Orchester) der Puls weitergeht. Das Gedicht Informationsstand etwa beginnt mit dem Satz „Man weiß es noch nicht.“ und endet mit: „Sag es, wenn du Bescheid weißt.“ Zwischen diesen Sätzen könnte auch ein großer Roman liegen, auf sie folgen aber kann nur Stille, zerdehnt und unabschließbar hinausgeschoben; die Stille wird indirekt beschworen wie in jenem berühmten Vers Hölderlins: „Im Winde klirren die Fahnen“.
„Wie früher“ ist eine Fügung, die häufig begegnet – aber selten hat man sie so unsentimental gesehen, gleichsam in der Wildbahn des selbstreflexiven Erinnerns. In der Landschaft herrscht Gleichzeitigkeit, Überblendung von Zeit- und Gedächtnisschichten. Wenn zuweilen und selten etwas Nostalgie aufkommt und Unmut auf Gegenwärtiges, dann bezeichnenderweise im Kontext der Kunst selbst. Galerie thematisiert das Vernissagenunwohlsein, da klingen Verse an Gottfried Benns wunderbares Was schlimm ist an, und der unwirsch zärtliche Stoßseufzer hängt sich ins Maximum: „wer hat noch Söhne wie Johann Sebastian Bach“.
Neben den Fügungen wie „wie früher“ sind es gerade die unbestimmten Wörter wie „irgendwann“, die eine unheimliche Schärfe gewinnen. Diese kleinen Wörtchen führen in den leisen, treibsandigen Sog der persönlichen Erinnerung an das, was die Geschichtsschreibung mit Pomp verhandelt, den letzten Weltkrieg. Das Rad der Fortuna ist in diesem Zusammenhang von Anfang an ein subkutanes Thema: aber nicht seine schnelle Hebelbewegung, sondern seine knirschend langsame Unberechenbarkeit. Das wirkt sowohl in den Ereignissen, als auch in den Erinnerungsvorgängen. Um diese Verspannungen aufzurufen, setzt Becker kleine konzentrierte, ja: destillierte Szenen. Dabei wird oft und viel Kuchen gegessen – aber wer hier Spuren von Biedermeierlichem entdecken will, der muss schon sehr hartgesotten sein.
Die Kriegskindheit wird nicht nur im Modus der Erinnerung präsentiert, sondern in dem des Erinnerns, situativ und gerahmt, hineingehackt in einen Sonntagnachmittag, Jahrzehnte später, überfallartig: aber auch hier ohne stilistischen Tumult. Die „Kusine zeigt auf die Narbe am Bein. Nein, wir / wußten es nicht. Buttercréme, Streuselkuchen, und / ausgeplündert das Gehöft.“ heißt es in Rheinischer Nachmittag. Der Text behält die Ruhe, und treibt so den Wellengang im Leser nur umso mehr. Die Mittellage, die Enthaltsamkeit gegenüber Larmoyanz und Ironie, ist eine der Stärken des Bandes. (Dass auch in dem ausgesprochen schön aufgemachten Band sich noch einige wenige Tippfehler gehalten haben, der Akzent etwa verkehrtherum auf der Crème sitzt oder ein Gedicht im Inhaltsverzeichnis anders titelt als im Buch, das ist zwar schade, aber ganz unbedingt zu verschmerzen.)
In der jahreszeitlichen Organisation des Bandes drückt sich ein gewisser Zug zum zyklischen Geschehen aus. Etwas geht verloren, anderswo wuchert etwas, unaufhaltsam sind diese Bewegungen, vorerst (um noch ein Hölderlin-Wort zu bemühen) deutungslos. Aber dort, wo sich ein argusgeäugtes Wort als Nullkoordinate einrammt, beginnt die zyklische Bewegung: „Die Kinder haben / es vor sich, das Erzählen aus der Kindheit.“ beziehungsweise: „Die Jahreszeit / stellt das Jetzt wieder her, das stapelweise / in den Schubladen liegt.“ Wo die Drehung ihr Zentrum hat, im Auge des Sturms herrscht Stille: „Unsere Eltern / sind tot. Unsere Kinder fragen nicht viel.“
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