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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Die defizitäre Sichtweise

Hamburg

… wäre als Einordnung für Katharina Bendixens 13 sehr unterschiedliche und vielschichtige Erzählungen, die in ihrem neuen Band erschienen sind, wohl um einiges zu defizitär. Unter dem etwas unscheinbaren Titel Gern, wenn du willst versammelt sie Geschichten, die unter die Haut gehen. Wenn die Welt nicht so scharfkantig war, fiele es mir leicht, vor ihr zu bestehen. Diffiziles wird ans Licht geholt, die hässliche Seite der Realität nie ausgespart. Es ist immer ein anderes, namenloses Ich, das einmal beim Bocciaspielen mit den Eltern den Buchstaben „A“ bekommt. Das Ich ist in fast allen Erzählungen eine junge Frau. Einmal ein junger Mann. Immer arbeitet es innerlich an etwas. Immer spielt es in der Jetztzeit. Ein absolut lesenswertes Buch.

Da ist beispielswiese ein kleines Mädchen, das nur die Erzählerin sehen kann, das sie ständig begleitet und – ein weibliches Pendant zum „bucklicht Männlein“  – ein Mädchen, das einfach da ist und sich als biestiges Alter Ego ins Leben der Protagonistin drängt. Wenn ich beim Arzt saß, lehnte es an der Eingangstür und beobachtete die anderen Patienten und mich. Im Supermarkt schlich es hinter meinem Einkaufswagen her, warf scharfe Chips in seinen Korb und schubste mich am Süßwarenregal zur Seite. Zwischen den beiden besteht von Anfang an eine Art Hassliebe. Das kleine Mädchen ist immer da und folgt der Protagonistin auf Schritt und Tritt, sogar in den Urlaub – und stört durch seine ätzende, penetrante Anwesenheit, aus der sich wohl oder übel eine symbiotische Koexistenz ergibt.

Häufig verwendet Bendixen den Kunstgriff des unzuverlässigen Erzählens. Man spürt: die Figur hat ein Problem und merkt es nicht, dass sie selbst es ist, die an nachhaltiger Realitätsverzerrung leidet. So kann man aus den Reaktionen der geschilderten Umwelt ablesen, wenn man auf die Reaktionen und Äußerungen der Nebenfiguren achtet, was tatsächlich abläuft. Es bleibt dennoch im Dunkel, was wirklich geschieht. Die Ich-Erzählerin hat mehrfach einen extremen „Tunnelblick“ und dadurch eine radikal verengte Perspektive. Was sie wahrnimmt, ist fast nie deckungsgleich mit irgendeiner Realität.

Die Geschichten sind dabei stets genau verortet: immer ist klar, was mit der Figur passiert ist. Geschildert werden in präzisen Beschreibungen u. a. Szenerien moderner Arbeitswelt, z. B. im Callcenter Outbound, in einer Fertigungshalle am Fließband, beim Kellnern in einem Strandort an der Ostsee. Es geht dabei um innere Themen wie Trennung, um das Verkraften einer Abtreibung, um scheiternde Beziehungen, um Sehnsucht nach Liebe von Seiten der eigenen Eltern, um eine Annäherung von Mutter und Tochter, um Heilung von Krebs. Das Erleben der Figur wird hautnah und in ihrem vorwiegend sehr weiblichen Erleben beinahe überscharf geschildert. Es gibt Szenen, die an Elfriede Jelineks Lust erinnern. Wir liegen nebeneinander, wir sind wach. Seit der Fehlgeburt schläft mein Mann nicht mehr mit mir, aber das ist nicht schlimm. Er hält meine Hand, und ein- oder zweimal pro Woche kommt es vor, dass er seine Hände unter mein T-Shirt schiebt und nach meinen Brüsten greift.

Einige Protagonistinnen sind gesteuert von fixen Ideen, z. B. dass sie von falschen Eltern aufgezogen wurden oder dass in drei Tagen der Krieg beginnt. Eine Protagonistin muss auf Beerdigungen immer kichern. Einmal hat ein Junge die Vorstellung, dass Türen aufgehen und Gestalten herauskommen und überträgt seinen „Spleen“ auf die Protagonistin – der natürlich kein Spleen ist, sondern Symptom von etwas Unbekanntem, das viel tiefer liegt. Dabei gibt es ab und zu beinahe überlebensgroße Mutterfiguren, nach denen sich die Ich-Erzählerinnen sehnen; es gibt auch den Vater, der nach dem Tod der Gattin pro Jahr zwei Kilo abnimmt. So wird die stereotyp verwendete Phrase Gern, wenn du willst zum Symptom einer scheiternden Liebesbeziehung.

Das Leben basiert auf einer einzigen Regel: ans Meer. Ist man durch eine Prüfung gefallen: ans Meer. Hat man seine Arbeit verloren: ans Meer. Ist der Freund weggelaufen: ans Meer. Ist nach langer Krankheit die Mutter gestorben: ans Meer. Möchte man endlich schwanger werden: auch ans Meer: Nach einer Abtreibung: immer ans Meer. Hat man kein Geld fürs Meer: trotzdem ans Meer. Einen Ferienjob suchen. Kann man schwimmen: Bademeister. Kann man tragen: Erntehelfer. Kann man gar nichts: Kellnerin. Die Geschichten haben Witz und dazu einen besonderen, manchmal kindlichen Humor, der oft ein wenig zwischen den Zeilen steht. Meinen Vater, einen Elektriker, hatte ein Schlag getroffen – eine der wenigen Stellen, wo der Humor der Verzweiflung anklingt wie ein makabrer Gag der Machart „standesgemäßes Sterben“, wie sie im Internet zuhauf kursiert. In der Sonnenklinik hoffen krebskranke Frauen auf Heilung von innen. Um die Figuren herum bekommt alles einen irrealen, traurigschönen Glanz.

Katharina Bendixen verbindet in ihren Erzählungen surreale Momente mit einer realistisch präzisen Sprache, steht im Klappentext. Das Wort surreal ist manchmal immer noch ein Stempel und quasi ein Schimpfwort ist für all das, was mit der Alltagslogik nicht fassbar ist – was schräg ist, schrill und mit modernen Mitteln versucht, der Realität beizukommen, sie anders zu fassen. Hier geht es um viel mehr geht als um ein bloßes, unentschiedenes Nachzeichnen von Traumlogik oder gar darum, durch bewusstes, dunkles Verschlüsseln pseudomystischen „Inhalt“ zu erzeugen. Bendixens Erzählungen haben durchweg Tiefgang und bedienen sich verschiedener Kniffe, um das Erleben der markanten Ich-Erzählerinnen plastisch zu machen. Diese Figuren sind sehr komplex angelegt und treffsicher charakterisiert.

Bereits auf der Hinfahrt hat es mich angestrengt, dass meine Mutter nie in den fünften Gang schaltet, dass sie, wenn wir zu zweit sind, keine Minute schweigt und dass sie manchmal wie nebenbei meinen Oberschenkel berührt. Erstaunlich scharfsinnig wird die Beziehung zwischen Mutter und Tochter herausgearbeitet, die sich gegenseitig genau beobachten, an der Oberfläche um Lappalien zanken und sich dabei im Klein-Klein ihrer Probleme verzehren. Und genau hier wird klar, dass es eben gar nicht um das Klein-Klein der Bagatellen geht. Sichtbar wird oft nur der schwimmende Eisberg. Bei Bendixen erfahren die Leser, was sich unter Wasser tut.

Ein junger Mann sieht sich selbst in einem Film, in dem er nicht mitgewirkt hat, und sieht, dass er sogar im Abspann erwähnt wird. Zwei Jahre später sieht er mit Freunden dieselbe Szene und bemerkt, dass sich auch diese Szene im Film verändert hat.

Ein Ring legt sich um die Welt, und wird immer enger, schneidet die Protagonistin immer weiter ab, denn Zentrum des Rings ist ihr Schlafzimmer.

Nochmals Klappentext: Wenn ganze Städte verschwinden, wenn ein unsichtbares Mädchen in die Umkleidekabine der Protagonistin vordringt oder eine Frau mit Männern aus verschiedenen Lebensabschnitten simultan in ihrer Wohnung lebt, dann sind wir in Katharina Bendixens magischer Welt.

Die Frage ist, ob magisch der richtige Begriff ist. Die Figuren machen immer etwas durch, haben dabei ihre versteckten Gründe und Abgründe und sehen selbst nicht, was der Leser längst entdeckt hat. Und ohne jetzt eine Reihe psychologischer Fachbegriffe einstreuen zu wollen (Trauma, Psychose, Neurose), klingt das Wort von der magischen Welt doch fast wie ein Understatement, zielt nur knapp daneben, aber letztlich vorbei, weil es bei Bendixen darum geht, dass anhand der sogenannten Magie die ganze Komplexität subjektiven Erlebens eingefangen wird.

Die Frau auf der anderen Seite des Tisches war schön, aber nicht glücklich. Glücklich sind die Protagonistinnen selten. Manche Geschichten enden in einem positiven Nachglanz, andere nicht. Man mag es gerne Utopieverdrossenheit nennen, wenn man der Meinung ist, dass selbst in moderner Prosa immer etwas aufscheinen soll, etwas Freudiges aufscheinen soll, was Bendixens Geschichten nicht oft anzubieten haben. Das Leben bietet für das Gros der Sterblichen selten ein Happy End an, und in Gern, wenn du willst ist das nicht anders. So bleibt im Ganzen beim einen oder anderen Leser neben dem Genuss an der exakten und dennoch anschaulichen Wortwahl vielleicht ein bitterer Nachgeschmack. Es wird der Finger in die Wunde gelegt: Da ist etwas nicht in Ordnung – es wird hierbei stets haarscharf gezeigt, was da nicht funktioniert. Sympathisch: in keiner Geschichte werden einfache Lösungen angeboten. Stets scheint es in Nebensätzen auf, was da im Argen liegt. Es sind Sätze wie Schön, wie die hier alle Deutsch sprechen, sagt meine Mutter beim Frühstück – beim Urlaub in Polen. Andere Sätze beamen einen sofort in die Realität zurück. Am Morgen nach der Hochzeit wurde ich vom Knallen einer Autotür wach.

Sprachlich gibt es faszinierende Stellen. Am Sonntag radelte ich, einen Topf mit Tulpenzwiebeln im Fahrradkorb, durch die fremden Straßen. Ab und zu hielt ich an und vergewisserte mich auf dem Stadtplan, dass ich mich nicht verfahren hatte. Der Stadtplan war neu, mit leuchtenden Farben und sauberen Falzstellen. Die sprachliche Schönheit verbindet sich mit originellen Einfällen, aus denen ganze Geschichten entstehen. Meine Mutter besitzt verschiedenfarbige Augen, das eine ist braun, das andere grün, und sie liebt mich.

Die Kernthemen offenbaren sich häufig in Nebensätzen. Wo in anderer Prosa einfach „drübergebügelt“ wird, weil man dem Leser doch um alles in der Welt eine „positive“ (!) Prosa erzählen möchte, sind es hier gerade die kleinen Widerborstigkeiten und Verwerfungen, die von der Autorin präzise herausgearbeitet werden. Ätzend. Schonungslos. Realistisch. Es sind definitiv keine Geschichten, die manche Bücherkataloge als „couchkompatibel“ anpreisen und gar nicht merken, welche Realsatire dieser Begriff darstellt. Bendixens vorrangiges Motiv, spannende Geschichten zu erzählen, ist es nicht, den Leser in Behaglichkeit einzulullen. Wer also gerne Geschichten liest, in die er bequem abtauchen kann, die im Großen und Ganzen die Welt so bestätigen, wie sie ist, trifft mit diesem Buch die falsche Wahl. Bendixen geht tiefer. Bendixen bohrt mit überraschender, klarer Sprache da noch einmal nach, wo sie etwas vermutet. Und wird immer fündig.

Sie haben mir von vergangenen Tagen erzählt, von dem Löschwasserteich, in dem sie im Sommer spielten, bis ihre Eltern sie an den Haaren herauszerrten, von dem alten Schreiner, dem nicht nur ein Finger, sondern auch ein Auge fehlte, und von dem Septembertag, an dem sie sich zum ersten Mal küssten.

Gern, wenn du willst ist nach ihrem Debüt Der Whiskeyflaschenbaum (2009) im poetenladen der zweite Erzählband von Katharina Bendixen. Sie ist 1981 in Leipzig geboren, verlebte ihre Kindheit in Laos und studierte Buchwissenschaft und Hispanistik in Alicante und Leipzig. Sie veröffentlichte u. a. in Literaturzeitschriften und Anthologien wie Am Erker, entwürfe, Lichtungen, schreibkraft, Macondo. Sie lebt als Autorin und Journalistin in Leipzig.

Katharina Bendixen
Gern, wenn du willst
poetenladen
2012 · 120 Seiten · 16,80 Euro
ISBN:
978-3-940691323

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