Kritik

Multimediale Schneekristalle

Ein literarisches Tagebuch von Nicola Reiter
Hamburg

Der Leipziger Verlag Spector Books legt mit „Firn“ nach „Positio“ das zweite Buch von Nicola Reiter vor. Schon in „Positio“ kündigte sich an, welch wundervolle Beziehung Buchgestaltung und Geschichte eingehen können, sowohl Realgeschichte, als auch erzählte, vorgefundene und gestaltete.

In „Firn“ scheint sich zudem zunächst auf eindrückliche Weise zu bestätigen, was Georg Simmel in seinem Essay „Die Alpen“ Anfang des 20. Jahrhunderts theoretisch ausführte: „Und nun ist es das Wunderbare, das das ganz Hohe und Erhabene der Alpen gerade erst fühlbar wird, wenn in der Firnlandschaft alle Täler, Vegetation, Wohnungen der Menschen verschwunden sind, wenn also kein Niederes mehr sichtbar ist, das doch den Eindruck des Hohen zu bedingen schien.“

Simmel, der davon ausgeht, das die Gegensätzlichkeit gewissermaßen die Bedingung der Anschaulichkeit der bildenden Kunst ist, meint mit dem Hohen, zumindest in diesem Fall, das geographisch Hohe, das als solches im Abbild eben die Form des Erhabenen erhält, weil es einem Niederen korrespondiert. Der Berg also wird durchs Tal zum Berg, die Baumgrenze durch den unter ihr liegenden Wald erst sichtbar. „Hier aber (in den Hochalpen) ist die Landschaft, die vollkommen „fertig“ ist; weil sie sozusagen beziehungslos ist und jeder Verschiebungsmöglichkeit und Gegenspieles mit einem zu ihr Korrelativen entbehrt, verlangt sie nach keiner Erlösung durch künstlerisches Sehen und Vollendung….“

Nicola Reiter unterläuft mit ihrem Buch Simmels These auf grandiose Art und Weise, einerseits weil sie ihr Projekt multimedial anlegt, Text Bild, Buch und Liste zu einem Werk verknüpft, und andererseits, weil sie, Simmel zunächst scheinbar bestätigend, dann aber Dinge wahrnimmt, die sich seit seiner Betrachtung verändert haben; denn in der Landschaft, die Berge sind immer noch Simmels lastende Gesteinsmassen, taucht plötzlich zum Beispiel die Gondel einer  Schwebebahn auf, die zur provisorischen Hütte umfunktioniert wurde. Ein Bild, das das vorzivilisatorischen mit dem postapokalyptischen verbindet, und zugleich die Überformung der Landschaft durch menschliches Eingreifen anzeigt.

Als Firngrenze wird die sommerliche Untergrenze der zusammenhängenden Schneedecke auf Gletschern bezeichnet, und Firn (von althochdeutsch firni „vorjährig“; vgl. schweizerdeutsch „färn“) ist abgelagerter Schnee, Schnee der mindestens ein Jahr alt ist. Die kleineren Schneekristalle haben sich durch wiederkehrendes Abtauen und Schmelzen zu größeren graupelartigen und körnigen Gebilden verwandelt.

Unterhalb dieser Firngrenze verbringt die Icherzählerin einen Sommer in einer Hütte in den Schweizer Hochalpen, um Geld zu verdienen und wahrscheinlich auch ihrem Alltag zu entfliehen. Ihr heimatlicher Freund weilt solang aus Arbeitsgründen in Dubai, als wolle man die größtmögliche Entfernung zwischen sich bringen. Und was räumlich funktioniert, wirkt sich auch seelisch aus. Die zurückgelassene Stadt wird nur ab und an zum Gegenstand und immer in Verbindung mit Telefonaten.

Jeden Tag, um eine bestimmte Urzeit, macht die Protagonistin ein Foto, und sie schreibt Tagebuch.

Eigentümer der Hütte und Arbeitgeber ist Pius, in dem Einsamkeit und karge Gegend sich eingeschrieben haben, der gewissermaßen eins geworden ist mit den Steinen. Zu ihm entwickelt sich eine konfliktreiche Beziehung, unterbrochen oder abgefedert von einkehrenden Bergwanderern oder Pius Freunden.

„Von Zeit zu Zeit lösen sich Felsbrocken und stürzen senkrecht in die Tiefe. Sie zerbersten und rollen als Ganzes weiter, bringen auf ihrem Weg andere Steine in Bewegung und bleiben schließlich irgendwo im flacheren Gelände liegen.“ Mehr passiert eigentlich nicht, und trotzdem folgt man atemlos den Schilderungen Reiters.

Im Grunde ist alles karg. Es gibt keine Pflanzen, keine Tiere und irgendwann im Laufe des Sommers, der ohnehin nur zwei Monate dauert und ab Anfang August auch noch von Schneeschauern begleitet wird, geht auch noch die Solaranlage kaputt, die den Fernseher mit Strom versorgt.

Anfangs noch denkt man, es könne zu einer Liebesbeziehung zwischen Pius und der Tagebuchautorin kommen, aber dafür ist in der Bergwelt kein Platz und die beiden Personen scheinen viel zu sehr auf sich zurückgeworfen, und auch im Leser stellt sich auch ein  Schwebezustand ein, eine Art atemlose Ruhe, wie sie der beschriebenen hochalpinen Gegend anlastet. Eine merkwürdige, ein einzigartige Erfahrung. Es muss an der Sprache Reiters liegen, die das ganze schmucklos eindringlich gestaltet. Auch das ein schwebender Eindruck. Großartige Prosa, wie ich sie besser in den letzten Jahren kaum gelesen habe.

Bei „Firn“ handelt es sich um ein Gesamtkunstwerk, denn die Autorin zeichnet wie auch schon in „Positio“ nicht nur für den Text verantwortlich sondern auch für die Gestaltung des Buches. Alles korrespondiert mit allem. Einmal, als es der Protagonistin langweilig ist, beginnt sie Inventarlisten anzufertigen, die den zweiten Teil des Buches ausmachen und im dritten Teil sind die Fotografien versammelt, von denen oben schon die Rede war. Und das Ganze ist einfach schön, verdammt schön.

Nicola Reiter
Firn
Aufzeichnungen am Gletscher
Spector Books
2012 · 256 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-940064387

Fixpoetry 2012
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.

Letzte Feuilleton-Beiträge