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Kritik

Keine Hoffnung auf Licht

Samanta Schweblins mysteriöser Roman "Das Gift"
Hamburg

Als Argentinien 2010 das Gastland der Frankfurter Buchmesse war, konnte man hierzulande eine Fülle wahnsinnig interessanter Autoren kennenlernen. Darunter befanden sich außergewöhnliche Stimmen wie Fabián Casas, Martín Kohan, Lola Arias oder Samanta Schweblin, um nur einige zu nennen. Das ganz große Publikum scheinen viele der damals hoch gehandelten Entdeckten aber nicht erreicht zu haben. 2010 ist für die meisten argentinischen Autoren auch das Jahr der letzten Übersetzung ihrer Werke ins Deutsche gewesen. Das liegt möglicherweise daran, dass die oben Genannten nicht gerade als „Wohlfühlautoren“ bezeichnet werden können. Bei ihnen geht es häufig um die Nachwirkungen der Militärdiktatur, um politische Repressionen, die Perspektivlosigkeit der Jugend in Buenos Aires und dem Rest des Landes. Oder, wie im Falle Schweblins, um existenzielle Bedrohungslagen, die sich der Rationalität entziehen und nur durch ein fantastisches, um nicht zu sagen magisches Weltverständnis annähernd greifbar werden.

Mit dem Erscheinen ihres Romans Das Gift endet nun die fünfjährige Wartezeit für die Leser, die Schweblin mit ihrem Erzählband Die Wahrheit über die Zukunft aufmerksam werden ließ. Im Roman erzählt sie die Geschichte zweier Mütter, die in einem vergifteten Landstrich verzweifelt versuchen ihre Kinder zu retten. Dabei schreckt Carla nicht vor dem riskanten Versuch zurück, Sohn David durch „Transmigration“, einer teilweisen Seelenwanderung, einen gesunden Körper zu verschaffen. Die Sache scheint jedoch außer Kontrolle geraten zu sein und so verbinden sich die Schicksale von Carla und David mit dem von Amanda und ihrer Tochter Nina.

In einem albtraumhaft verdichteten Plot versucht Amanda mit Davids Hilfe zu verstehen, was wirklich geschah, und vor allem, wo sich Nina seither befindet. Dabei überlagern sich die Erzählebenen teilweise so stark, dass man leicht den Überblick verlieren kann bzw. sich fragen muss: Wer spricht hier eigentlich? Rückblenden, Zukunftsträume, Fieberfantasien und eine Art kooperatives Erzählen zwischen Amanda und David wechseln sich auf den 120 Seiten immer wieder übergangslos ab, was der Kohärenz der Story ab einem gewissen Punkt nur bedingt gut tut. Als Zeuge einer Rekonstruktion weiß der Leser zunächst nur so viel wie die Figuren, wird im Verlauf des Romans jedoch nicht unbedingt schlauer.

Auf diese Weise bleibt Das Gift die mysteriöse Demonstration eines doppelten Kontrollverlustes, über die Geschehnisse im Roman und die Art, diese aus verschütteten Erinnerungen zu verstehen. Dass Schweblin nicht mehr nur mit den magischen Realisten Südamerikas, sondern neuerdings auch mit Hitchcock und David Lynch verglichen wird, verwundert da wenig. Obwohl die an den Tag gelegte Lakonie der Sprache manchmal allzu teilnahmslos wirken kann, versteht es Schweblin, eine zwingende, unterschwellige Atmosphäre aus Horror und Mystery zu kreieren, die aber wohl nur den Leser bei Laune halten wird, der gern mal im Dunkeln tappt – und zwar ohne Hoffnung auf Licht. Fans von David Lynch etwa.

 

 

Samanta Schweblin
Das Gift
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
Suhrkamp
2015 · 127 Seiten · 16,95 Euro
ISBN:
978-3-518-42503-9

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