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Komm! Ins Offene haus für poesie
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Komm! Ins Offene haus für poesie
Kritik

Dorftratsch mit höherem Anspruch

Susan Cheever stellt eine der wichtigsten Intellektuellengemeinschaften des 19. Jahrhunderts vor
Hamburg

Mitte des 19. Jahrhunderts war die Kleinstadt oder eigentlich vielmehr: das Zweieinhalb-Tausend-Seelen-Dorf Concord in Massachusetts für Amerika ungefähr das, was Ende des achtzehnten, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Weimar für Deutschland bedeutete: ein Ort der geballten literarischen Intelligenz, die ins ganze Land hinausstrahlte. Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau, Nathaniel Hawthorne, Bronson Alcott mit seiner Tochter Louisa May Alcott wohnten hier und die Schriftstellerin Margaret Fuller kam oft für längere Zeit zu Besuch, länger, als es den Ehefrauen von Emerson und Hawthorne lieb war. Concord war eine der großen amerikanischen Ideenschmieden, untrennbar verbunden mit den Titeln von auch in Deutschland bekannten Klassikern: Emersons „Natur“, Thoreaus „Walden, oder: Leben in den Wäldern“, Hawthornes „Der scharlachrote Buchstabe“, Louisa May Alcotts „Betty und ihre Schwestern“ und im weiteren Umkreis auch Melvilles „Moby-Dick“ und Whitmans „Grasblätter“.

Susan Cheever hat mit „American Bloomsbury“ (der Titel bezieht sich, etwas unglücklich, auf eine britische Literatengemeinschaft um Virginia Woolf und ihren Mann) eine kurzweilige Gruppenbiographie vorgelegt. Sie beschreibt auf ein wenig kolportagehafte, aber durchaus informative Weise, wie es Emerson gelang, Mitte der 1830er Jahre einige Intellektuelle in Concord um sich zu scharen — deren finanzielle Bedürfnisse er immer wieder bestreiten mußte —, und welche Ideen und Werke dem Zusammenleben und gegenseitigen Gespräch entsprangen, verhehlt aber auch nicht, welche persönlichen Verwicklungen, vor allem amouröser Natur, und wieviele Probleme diese enge Verbindung und Verbundenheit in dem kleinen, geschichtsträchtigen Dorf in der Nähe Bostons mit sich brachte.

Vorm inneren Auge entsteht noch einmal das Bild einer Gemeinschaft, die den verknöcherten puritanischen Geist, der an der Ostküste bei Boston sein besonderes Unwesen getrieben hatte, ein für allemal austreiben wollte, um eine neue Individualität zu verkünden. Wir erleben, wie die emanzipierte Margaret Fuller mit ihrer sprühenden Intelligenz sowohl Emerson als auch Hawthorne den Kopf verdrehte und ihnen dabei manche gute Idee einpflanzte; wie Bronson Alcott nach dem Scheitern der utopischen Gemeinschaften von Brook Farm und Fruitlands immer wieder nach Concord zurückkehrte und an seinen erzieherischen Idealen festhielt; wie seine Tochter Louisa May ein Auge auf Thoreau warf, der wiederum mehr als freundschaftliche Gefühle für Lidian Emerson empfand, als er während der Vortragsreisen ihres Mannes die Familie umsorgte und die Kindererziehung übernahm; wie Emerson das Grundstück am Walden Pont zur Verfügung stellte, auf dem Thoreau die Erfahrungen für seinen Naturessay sammelte; wie Emersons Sohn im Alter von fünf Jahren stirbt, wie Emersons Haus abbrennt, wie Thoreau den Fluß befährt und sein Scheitern als Schriftsteller zu bewältigen versucht, wie Bronson Alcott mit beiden Füßen über dem Boden schwebt und die Familie damit immer wieder in Ruin und Verzweiflung treibt, wie seine Tochter diese Erlebnisse in einen Roman bannt, der zu einem der meistgelesenen Jugendbücher Amerikas werden sollte...

Natürlich kann Cheever auf knapp dreihundert Seiten den geistigen Horizonten von mehr als fünf bedeutenden Autoren und Autorinnen und den weitgespannten philosophischen Zusammenhängen ihrer Werke nicht annähernd auf den Grund gehen; dennoch macht ihr Buch neugierig und ruft die in Amerika fast schon ikonischen Gestalten, die hierzulande längst nicht in gleichem Maße bekannt sind, mit seiner durchaus nicht hagiographischen Darstellung wieder in Erinnerung. Cheevers Buch ist, auch wegen des streckenweise persönlich gehaltenen Tons, Unterhaltung auf klugem Niveau — und stößt hoffentlich einige Leserinnen und Leser an, weiter in eine der aufregendsten Epochen der amerikanischen Geistesgeschichte einzudringen.

Susan Cheever
American Bloomsbury - Ein Leben zwischen Liebe, Inspiration und Natursehnsucht.
Aus dem amerikanischen Englisch von Ebba D. Drolshagen
Suhrkamp/Insel
2017 · 287 Seiten · 24,00 Euro

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