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Kritik

Noch ist Beelitz nicht verlassen

Best of der Urbex-Fotografie an den berühmtesten lost places einmal rund um den Globus.
Hamburg

In den letzten Jahren haben in der Fotografie Raum und Zeit im Spiegel historischer Veränderungen an Interesse gewonnen. Besonderen Auftrieb gewann innerhalb dieser Bewegung die „lost-places“-Fotografie, der die Hamburger Kunsthalle 2012 mit Werken von Sara Schönfeld, Andreas Gursky u.a. eine eigene Ausstellung widmete. Gezeigt wurden beispielsweise verlassene Industrieanlagen und ehemalige Wohnkomplexe, vom Zahn der Zeit zernagt, Monumentaldenkmäler menschlichen Schaffens, das sich von diesen Orten abgewandt hat.

Inzwischen ist diese „Lost places“-Fotografie selbst zu einem ästhetischen Topos geworden – allerdings zu einem, dem die eigene Begrifflichkeit nicht (mehr) gerecht wird. Denn wenn „World's lost places“, in Edelfotografien abgelichtet, in einem Bildband erscheinen, sind sie genau genommen keine verlassenen Orte mehr.

Der Mitteldeutsche Verlag bedient seit einigen Jahren diese fotografische Sparte ausführlicher und hat jetzt, mit Texten des Journalisten Peter Traub, einen Bildband der gewissermaßen berühmtesten verlassenen Orte herausgebracht.

Versammelt sind Bilder einiger auf städtische lost places spezialisierter Fotografen meist der jüngeren Generation: Marc Mielzarjewiecz, der in Japan lebende Franzose Jordy Meow oder Dan Marbaix und Daniel Barter. Aber auch Fotografen und visuelle Künstler, für die urban exploration (Urbex) photography nur einen Teil ihres Oeuvre darstellt, sind dabei: etwa Martin Graf, der US-Amerikaner Rob Sall, der Argentinier Alberto Clavería oder der in Belgien lebende Astronom Kris Delcourte, wegen seines Faibles für Sonnenfinsternis bekannt als „Mr. Blacksun“.

Insgesamt präsentiert der Band eine Art best of der Urbex-Fotografie an den berühmtesten lost places einmal rund um den Globus. Es beginnt mit der ukrainischen Geisterstadt Prypjat, ehemals  Wohnstätte der im AKW Tschernobyl arbeitenden Menschen, führt über das japanische Nara Dreamland, das 2006 endgültig von einem größeren und moderneren Vergnügungspark verdrängt wurde, über das australische HM Prison Pentridge und die vom Sand verschüttete Kolmannskuppe in Namibia, das überflutete Städtchen Epecuén in Argentinien und Detroits Architektur bis hin zu den Beelitzer Heilstätten bei Berlin und mehr.

Wie sehr die Orte und Motive hier auch die Bildbearbeitungstechniken und Inszenierungen beeinflussen, zeigt sich insbesondere an den Fotografien von Martin Graf. Seine Ablichtungen des französischen Ortes Oradour-Sur-Glane, das im Sommer 1944 Opfer eines grausamen Massakers einer SS-Division wurde, wirken scharf wie mit dem Silbergelatine-Verfahren erzeugt, S/W mit einem untergründigen Schuss Sepia, und erst auf den zweiten Blick ist zu erkennen, dass der Fotograf hier nur wenige Tupfer grüner und roter Farbe zugelassen hat. Ein Beklemmung erzeugendes Mittel, angemessen dem nunmehr siebzigjährigen Totengedenken. (Bis zum 20. November 2014 zeigt übrigens das Deutsch-Französische Kulturzentrum Essen die Fotografien in einer Sonderausstellung.)

Die Oradour-Sur-Glane-Bilder sind auch im Internet zu sehen, ebenso wie einige Fotografien von Jordy Meow oder Dan Marbaix. Somit ist dieser Bildband leider kein Exklusiv-Werk.

Auch sonst wirkt das Ganze ein wenig wie mit der heißen Nadel gestrickt: Die Texte Peter Traubs, wenngleich edel weiß auf schwarz gedruckt, geben zwar stichhaltige Auskunft über die Orte und ihre Geschichte, liefern aber keine Informationen zur Urbex-Fotografie, die hier so repräsentativ versammelt ist. Man hätte in einem solchen Band ein einbettendes Vorwort erwartet, einige Sätze zu speziellen Anforderungen oder Eigenheiten der Fotografie solcher lost places.

So ist beispielsweise ist die Frage interessant, ob die Urbex-Fotografie einer Erforschung letzter weißer Flecken, „die nicht als Spektakel entworfen wurden“ (Guy Debord), gleichkommt. Oder ob es sich hier nicht vielmehr um Spektakel handelt, die zwar einst entworfen, aber auch wieder verworfen wurden und als genau solche wieder in den Fokus einer (spektakulären) Inszenierung rücken. Statt etwas Neues zu schaffen, schaut man sich behutsam den Verfall an und bildet statt des zu Schaffenden oder Geschaffenen in Umkehrung den Verfall als eigene Kategorie des Werdens ab. Die Romantiker als Naturliebhaber vermuten darin den nicht inszenierenden und nicht kuratierten Blick.

Im Falle der Beelitzer Heilstätten bei Berlin oder der Wohnstatt Prypjat bei Tschernobyl in der Ukraine ist der Blick allerdings schon deshalb sehr wohl kuratiert, weil es bei so manchen scharf bewachten lost places kaum mehr möglich ist, in die Gelände und Anlagen zu gelangen, ohne an einer offiziellen Führung und unter Sicherheitsvorkehrungen Teil zu nehmen: Bevor der Fotograf mit seiner Linse eine Auswahl des abzulichtenden Objekts trifft, wird ihm schon nur noch eine Auswahl vorgezeigt.

In einigen Serien des Urbex-Spezialisten Dan Marbaix (Beispiel: „Das verlassene Haus des Doktors“) insinuiert die Bildfolge bereits eine Story. Sie wird also selbst zur Inszenierung, die im Kopf des Betrachters stattfindet. Vermutlich ist genau das der Reiz dieser Art Fotografie. Der Londoner Geograf und Urban Explorer Bradley L. Garrett hat die These aufgestellt, dass Urban Exploring eine Reaktion auf die "zunehmende Überwachung und Kontrolle des öffentlichen Raums" ist. Mittels der Neuinszenierung von einst hochfunktionalen, jetzt desfunktionalisierten Orten, Gebäuden und Anlagen wird eine Erzählkraft frei, die sich sonst im Alltag dauernd einer durchfunktionalisierten, keine Fantasie mehr zulassenden Ordnung gegenüber sieht. In diesem Sinne sind die lost places genau genommen refugiale Projektionsflächen, Spielplätze für Auge und Fantasie. Und das zu schauen lädt der vorliegende Bildband ein.

Urbex Fotografie
Die Welt der verlassenen Orte
World’s Lost Places
Mit Texten von Peter Traub
Mitteldeutscher Verlag
2014 · 240 Seiten · 29,95 Euro
ISBN:
978-3-95462-031-9

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