Die Ösen des Schuhs
Die Geschichten von Ursula Teicher-Maier stellen durchweg Alltagssituationen dar. „Alltägliches? Langweilig!“ bekommt man auf diese Auskunft hin als Reaktion erst einmal zu hören, von lieben Zeitgenossen. „Alltag? Kennen wir.“ Den würden wir ja alle erleben.
Aber so, wie Ursula Teicher-Maier das zunächst einmal amorphe Gebilde Alltag – heutigen, mitteleuropäischen Alltag – in Ausschnitten vorführt, ist das bisher nicht gemacht worden. Worin liegt bei ihr das Neue und gänzlich Unabgegriffene?
Schon die Sujets – die in aller Kürze hier nur grob formuliert werden können – sind oft genug frappant. Ursula Teicher-Maier verbreitet sich über das Einziehen eines Schuhbändels in die Schuhösen des Schuhs. Der Schnürsenkel ist zu lang; sie entschließt sich, ihn abzuschneiden, und ich erfahre:
das Schuhbändchen darf nun allerdings nie wieder aus einer Öse herausrutschen (Seite 61).
Oder:
Kühe heben die Köpfe vom Boden und schauen eine Frau an. Eine Kuh lässt einen Fladen ins Gras fallen. Die Frau braucht dieses Fallen, um nach Hause gehen zu können (65).
Charakteristisch werden die Begebenheiten außerdem besonders dadurch, in welcher Weise und in welcher Richtung Ursula Teicher-Maier ein Vorkommnis weiter registriert und beobachtet und weiter verfolgt. Auch dafür Belege:
Ein Mann sucht den Roman im Kopf. Die Frau sucht den Roman im Bett. Auf der Bettkante sitzt eine Katze. Die Katze ist aus dem Leben. Fazit: die Katze versucht den ganzen Abend zu lachen (11).
Ein Mann lässt den Rollladen herunter und die Meisen, die an der Fensterscheibe picken, sind nun gefangen; Resümee schließlich: die Herzen der Meisen schlagen so hell wie die Armbanduhr in der Hosentasche des Mannes (75).
Ursula Teicher-Maiers Alltagsminiaturen werden oft genug zu psychologischen Medaillons, sie gewähren Einblick in eine Welt des Seelischen, in eine bei Ursula Teicher-Maier oft vertrackte, nicht banale Welt, aus der die Autorin lauter Unbekanntes an die Oberfläche holt. Aber gern verlässt Ursula Teicher-Maier auch das Reale und schon gleich das platt Reale. Etwa:
Es geht um die Schulklasse der Lehrerin. Ein Schüler öffnet das Fenster. An der Klassenzimmerwand hängen Kinderzeichnungen. Die Augen in den Kinderzeichnungen sehen die Lehrerin an; – und nun der letzte Satz: Die Augen der Kinderzeichnungen schauen aus den Gesichtern der Schüler zum Fenster (68).
Es ist keineswegs einfach, abstrakt zusammenfassend zu sagen, wo Ursula Teicher-Maier den Alltag hindriften lässt. Sie hat da mitnichten immer die gleiche Intention und hat nicht immer eine gleiche Methode. Ein von ihr vorrangig verwendetes Endmotiv sind noch das Schweigen und die Stille; bis zur Seite 78 des Buches habe ich – von ihr eigens so erwähnt – zehn mal „schweigen“ gefunden. Oft dreht sich ein Text langsam ins Surreale. Jemand trinkt Milch und denkt dabei an seine Frau. Dann schaut er seine Frau anders an. Derweil steigt die Milch von außen an die Fensterscheiben (17). Andere surreale Schluss-Volten, meist vollkommen überraschend und dabei sorgfältig vorbereitet: Puppen haben ein Loch im Po, durch das sie Pippi machen können. Die Puppen schauen starr mit der Frau auf ein Loch in der Zeit (32). Oder andernorts: Eine Frau knipst das Licht wieder an. Ihr Mann bringt die Dunkelheit mit nach Hause (66).
Ursula Teicher-Maiers Texte sind lapidar. Lakonik ist ein durchgängiges Mittel von ihr. Dabei sind die Texte oft regelrecht spannend. Sie rufen deutlich Neugier hervor. Das Motto, das Ursula Teicher-Maier für eines ihrer Kapitel gewählt hat, stellt der Rezensent ohne weiteres in Frage. Sie bringt da ein Zitat von Max Frisch: „Alltag ist nur durch Wunder erträglich.“ Sie hat absolut nicht immer Wunder nötig. Aber so altklug-unumstößlich und bierbrav wie die Sätze von dem Top-Berühmten sind die Einfälle von Ursula Teicher-Maier auch gar nicht. Sie entwickeln eine oft ganz neue Art von Witz. Ich nenne sie auch modern-gagig. Alles das hätte Frisch nie erreicht; er hat es auch nicht angestrebt. Er hätte sich damit außerdem zu weit von seiner Leserschaft entfernt. Ursula Teicher-Maier ist da viel radikaler. Und Ursula Teicher-Maier erlaubt sich auch offene Texte zu schreiben; Texte, die eben nicht von vornherein ein klares Ende aufzubauen helfen. Bei ihr kann ein Prosatext deshalb dann auch überraschen. So etwas fällt heute einem fiktionalen Text nämlich schwer.
Man kann fragen: Sind das innovativ-kreative, experimentelle Texte? Wobei zu der Handlungsgestaltung noch hinzukommen der überknappe Stil, die Wiederholung von Satzkonstruktionen, überhaupt der Satzbau – der total vereinfacht ist –. Ich bin da geneigt, die Frage schlankweg zu bejahen; und dies auch obwohl sich geltend machen lässt, dass die Bild-Zeitung schon seit den Tagen ihres entscheidenden Blattmachers Peter Boenisch ebenfalls Kürzestsätze und die Vermeidung von Nebensätzen praktiziert; das heißt, seit den 50er Jahren, damals noch viel rigoroser als heute. Das sofortige erneute Benützen von Subjekt-Substantiven hat schon Judith Hermann geliebt, vor allem in ihrem ersten Buch Sommerhaus, später, sie hat das aber längst nicht so konsequent und auch nicht mit solchem Pfiff betrieben; nicht mit solcher Hintergründigkeit. Den weitestgehend nebensatzfreien Stil und diese Art, nur überhaupt ganz kurze Sätze zu verwenden, hatte schon Johannes Mario Simmel goutiert, allerdings lediglich in einem einzigen Roman, Gott schützt die Liebenden, dieser Roman ist auch noch kein Bestseller von der Größenordnung der dann folgenden Simmel-Romane geworden, und Simmel hat sich von dieser stilistischen Eigenart schnell wieder abgewendet.
Keiner der gerade Genannten hat das Naiv-Hintergründige so mit eingebracht wie Ursula Teicher-Maier in ihrem Prosaband.
Man fragt sich auch, wieso ist noch keiner drauf gekommen, über Alltag in dieser Weise zu schreiben? Ein durchaus ungelöstes Rätsel. Aber jedenfalls lässt sich gut daran ablesen: es ist schon eine Kunst, so zu schreiben, so aus der außerliterarischen Wirklichkeit auszuwählen und einen auch für tricksige Intellektuelle neuen Zusammenhang herzustellen.
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