Sprachartistische Lyrik
Ein Bildgedicht ist nicht das, was wir bei dem Wort erwarten: ein Gedicht, daß sich gebärdet wie ein Bild. Das tut streng genommen alle Lyrik, sie entwirft Bilder, Skulpturen, Räume – aber sie tut es mit Worten und ihren Beziehungsgeflechten und manchmal tut sie es als Figur, wie bspw. in den Figurengedichten von Dylan Thomas und vielen anderen optischen Texten der konkreten Poesie. Ein Bildgedicht aber ist jenes Gedicht, das sich zur Aufgabe gemacht hat ein bereits vorhandenes, bildnerisch umgesetztes Kunstwerk mit den Mitteln der Lyrik nachzuzeichnen, sei das eine Grafik, eine Foto, eine Skulptur. Gisbert Kranz hat sich Jahrzehnte mit der Abgrenzung und Erforschung dieser Lyrik-Spielart beschäftigt und ein umfangreiches Archiv dazu hinterlassen (seine aus den Forschungen zum Bildgedicht entstandene Fachbibliothek wurde von der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel erworben). Ihm ist zu verdanken, daß wir über eine Sprachregelung verfügen, die das „Bildgedicht“ eindeutig identifiziert und es sogar zur Gattung aufsteigen ließ (immerhin führt Kranz in seiner 1981 erschienenen Bildgedicht-Bibliographie 4585 Bildgedicht-Autoren an, aus 33 Literaturen und 28 Jahrhunderten, die in summa 40000 Bildgedichte verfaßt haben): demnach (und lt. Wikipedia) bezeichnet das Bildgedicht „ einen lyrischen Text, der sich auf Werke der Bildenden Kunst bezieht. Das Gedicht kann beschreibend oder interpretierend sein; es kann die Wirkung des Kunstwerks auf den Betrachter thematisieren oder auch ausgehend von der Beschreibung des Artefakts allgemeinere Betrachtungen über z. B. philosophische Themen anstellen“
Es macht nach meiner Meinung wenig Sinn, Lyrik nach ihrem Gegenstand zu klassifizieren – mit dem selbem Recht müßte es irgendwann „Elefantengedichte“, „Flugplatzgedichte“ und „Cowboygedichte“(s.a. hier) geben, sobald sich genug Gedichte der realiter vorhandenen Objekte oder Themen annähmen. Denkbar ist dabei, daß das Gedicht bestimmte Strukturmerkmale des Gegenstands mit in die Struktur des Textes übernimmt. Ein Elefantengedicht trabte also äußerst schwergewichtig daher, wäre dabei auf eine geheimnisvolle Weise eine tragfähige Mischung aus gemütvoll und souverän.
Und genau das untersucht Viviane Kafitz in ihrer vorliegenden Arbeit „Sprachartistische Lyrik – Gemälde- und Skulpturengedichte des russischen Symbolismus“. Gisbert Kranz hatte es immer versäumt auch transpositorische Aspekte zu untersuchen, ob und auf welche Art und Weise das Gedicht, das sich mit einem bildnerischen Kunstwerk beschäftigt, dessen Eigenart und Eigenartigkeit in seine eigene Struktur übernimmt oder moduliert. Anhand von fünf Gedichten von Mereszkowskij, Ivanov, Brjusov und Blok zeigt Viviane Kafitz, daß die Texte in weit mehr als nur inhaltlichen Relationen zum Bildnis stehen, sondern auch in ihrer Form Elemente und Aussageprinzipien des „Vor-Bilds“ spiegeln. Diese Untersuchungen von Synästhesie sind spannend und bislang in dieser Weise, zumindest für die russische Literatur, nicht geführt worden. Kafitz befundet „deutliche Parallelen der ästhetischen Kunstgriffe von Gedichten und Bildvorlage.“ Was nicht unbedingt bewußt herbeigeführte Parallelen sein müssen, sondern womöglich in der Aufmerksamkeit des Dichters für den symbolischen Gehalt aller Weltaspekte geometrisch vorgezeichnet ist.
Die Gestaltkräfte, die im Wortgeflecht wirken sind keine anderen als jene, die im Bildhaften wirken, nur daß die Möglichkeitsräume, die das Wort umkleiden in der Regel enger umgrenzt sind als jene, die um eine Farbe, einen Ton, einen Klang liegen. Das, was wir als rauschhaft empfinden, Farbe und Musik, hat den größeren, den durch seine Fülle berauschenden Möglichkeitsraum. Das Dionysische ist dem Apollinischen nur darin unterschieden. Und genau das löst die Poesie auf. Sie vermehrt das um die Worte herum Wirkende durch eine neue, andere und neue Räume öffnende Architektur. Und sie kann das Wirkende eines Bildes, einer Struktur, eines Klanges auf eine Weise nachbilden wie die Mathematik ein Verhältnis nachbildet, indem sie Worte zueinander in Beziehung bringt, durcheinander dividiert, aufrechnet und abzieht und ganz furiose Formeln bilden lässt.
Zurück zum Buch. Im letzten Teil der Arbeit untersucht Viviane Kafitz die „theoretische Einordnung der bildlyrischen Gattung in den ideengeschichtlichen Kontext der Jahrhundertwende“ – und das ist ein sehr ergiebiger Teil. Hier stellt sie dar, wie das Kunstschöne sich allmählich vor das Naturschöne schiebt und eine Überbewertung der Künstlerseele zu einer „l’art pour l’art“ führt. Diese Entscheidung ist eine, die auch heute noch alltäglich stattfindet – löse ich mich von der Welt und halte das, was in meinem Kopf geschieht für das Schönere, Kunstvollere, das Ausgezeichnete und Darstellungswerte, oder bleibe ich der Natur verknüpft, dem Außen, muß man heute sagen, weil unsere Umwelt nicht eine natürliche in dem Sinn ist, daß sie auch ohne uns da wäre, sondern eine, die wir uns „natürlich“ gemacht haben, weil wir selbst als Lebewesen Natur sind und unser Handeln und Tun alle Natur natürlich verändert.
Viviane Kafitz führt sehr klar die Argumente zusammen, die seinerzeit – um die Jahrhundertwende 1900 – zu einer Entscheidung für den ichstolzen Kunstmenschen, den esoterischen Teleologen und Weltsinndefinierer führt.
Ursprünglich als Doktorarbeit geschrieben, ist dieses Buch in der vorliegenden, umgearbeiteten Fassung nicht nur für jeden Leser ein Gewinn, der sich für russische Lyrik interessiert, sondern ganz allgemein auch für jenen, der sich mit Lyrik und den Entscheidungsprozessen hinter ihren Erscheinungsmöglichkeiten befasst.
Fixpoetry 2009
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