Lesart
David Maria Turoldo* 1916† 1996

Mich nur denken lassen

Das Universum weiß,
dass du die Quelle meines Gesanges bist:

Deine Abwesenheit macht mich verzweifeln,
die Gegenwart äschert mich ein:

Will ich dich erreichen, muss
ich aufhören dich zu suchen:

Den Geist übersteigen,
mich nur noch denken lassen.

So ist auch das Böse ein Gut.

Der Geist muss verschwinden:
Dann erst werden wir uns begegnen
und keiner von uns beiden wird zurückbleiben.

Und während ich mich immer verzweifelter
an dich klammerte, spürte ich,
dass du es warst, der mich aufsaugte:

Solange bis wir gemeinsam verloren waren.

Aus dem Italienischen von Stefanie Golisch

Das Vakuum und das Flackern der Gegenwart

In den Gedichten David Maria Turoldos (1916-1992) geraten Mensch und Gott in ein ebenso spannungsreiches wie verstörendes Verhältnis zueinander. Sie wissen, dass sie sich brauchen, sind auf der ständigen Suche nacheinander begriffen und deshalb in der steten Gefahr, an der Abwesenheit des anderen, seiner nur flüchtig aufflackernden Gegenwart zu verzweifeln.

Der gelebte Augenblick dieser existentiellen, von höchsten Erwartungen aufgeladenen Beziehung bildet den inneren Kern der einzigartigen Poetik des italienischen Priesters, Ordensgründers und Lyrikers David Maria Turoldo.

Das Verhältnis von Mensch und Gott, während langer Jahrhunderte die wichtigste Inspirationsquelle von Literatur, Kunst und Musik, geht im 20. Jahrhundert, zumal in Nordeuropa, weitgehend verloren. Der vermeintliche Tod Gottes lässt den Menschen in jenem Vakuum zurück, dass Benn in den Schlusszeilen seiner Zwei Dinge  eindrucksvoll benennt: es gibt nur zwei Dinge: die Leere/ und das gezeichnete Ich.

In Südeuropa, zumal in Frankreich, tragen bedeutende katholische Schriftsteller wie Georges Bernanos und François Mauriac dazu bei, den feinen Faden, den die Geschichte zwischen Mensch und Gott gesponnen hat, nicht abreißen zu lassen. Ebenso in Spanien und in Italien bleibt das religiöse Sein des Menschen in allen kulturellen Kontexten eine wichtige Dimension.
Für Turoldo bilden seine Existenz als Priester und Dichter eine unauflösliche Einheit. Im Zentrum beider Berufungen steht das Wort: als verkündendes und suchendes. Das Gedicht grenzt insofern stets an das Gebet; in beider Mittelpunkt steht ein zerrissenes, aufgewühltes und von Zweifeln und Anfechtungen aller Art gepeinigtes zeitgenössisches  Ich. Von der Zerreißprobe menschlicher Gottsuche legen Turoldos Gedichte Zeugnis ab. Es ist Jakobs Kampf mit dem Engel (1.Mose, 32, 23-33), jenes verbissene Ringen auf Leben und Tod, das keineswegs eine Nacht lang nur währt, sondern alle Nächte und das deshalb mit einigem Recht als das  Sinnbild der Conditio humana schlechthin gelten kann.

Es versteht sich, dass Turoldos Radikalität, seine starke, unbändige Persönlichkeit,  innerhalb der rigiden Hierarchien der katholischen Kirche nicht nur auf Zustimmung stieß; Unterordnung war weder sein Ziel noch seine persönliche Stärke. Um seine eigenen Vorstellungen von Spiritualität und mönchischer Ordnung möglichst unverfälscht zu verwirklichen, begann er zu Beginn der sechziger Jahre die verfallene romanische Abtei S. Egido in der Nähe von Bergamo wieder aufzubauen. Bis zu seinem Tode lebte der dort als Abt der Casa di Emmaus, einer von ihm gegründeten Bruderschaft, die sich als Zentrum der Ökumene verstand und weiterhin fortbesteht. Auf dem verwunschenen alten Friedhof der Abtei ist Turoldo unter einem schlichten Holzkreuz begraben. Seine Gedichte erscheinen – unvorstellbar  im deutschsprachigen Raum – in hohen Auflagen bei namhaften italienischen Publikumsverlagen. Es ist die Unerbittlichkeit ihrer Wahrheitssuche, welche ihr Fortwirken garantiert: die Ehrfurcht vor dem Wort und vor der undurchdringlichen Stille, die hinter ihm liegt.

Ein kleine Auswahl der Gedichte David Maria Turolodos in der Übersetzung von Stefanie Golisch sind nachzulesen in : Zeno, Jahresheft für Literatur und Kritik, Duisburg, 2009.

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