Lesart
N. R.

Hände hoben sich in mein Leben.
Liebe Hände, wie eines Kindes Hände.
Und weinten. Arme Hände!
Zu zweit in leeren Räumen weinten sie.

Und war ein Morgen. Und war ein Frühling.
Und war ein Sommer. Und immer wieder:
Frühling-Sommer. Wir sahen nichts als:
Immer Qual. Verstrickt. Warum?

Einmal war Flieder. Und leise Worte waren.
Und dann war Qual, jahrelang ohne Ende.
Warum? Weiß nicht. Weißt du's? Weiß nicht.
Niemand weiß es. Es war, es ist, wird sein: Qual.

Der Defekt ist eine Wahrheit, mit der man nicht spielen kann.

Qual ist etwas, das wir alle haben. Mehr oder weniger gehen wir damit um. Dem einen ist es die Zahnlücke, dem anderen die krumme Nase, einmal ist es der kleine Schwanz oder der zu kleine Busen. Ein prächtiger Fettarsch oder eine blinkendes Muttermal direkt auf der Lippe, ein Blutschwamm im Gesicht oder unübersehbare Pickelnarben. Nobody's perfect.

Überall, wo wir uns vergleichen und uns kleiner machen, weil wir anders sind, quälen wir uns, hadern wir mit unserem Schicksal und versuchen Unausweichlichem auszuweichen. Wenn wir die Pickel überpudern quälen wir uns, wenn wir die Zähne in Drahtgestelle zwingen, quälen wir uns, wenn wir Fett absaugen lassen und Penisse operativ herauszuppeln, quälen wir uns. Wenn wir Haare in blanke Areale einstechen lassen und Warzen herauseisen, quälen wir uns. Und nicht nur uns selbst, wir quälen alle Menschen – weil wir ihnen damit das OK geben, auch so sein zu müssen, nämlich fehlerlos und auf standardisierte Weise gnadenlos hübsch.

Das Gedicht, das 1910 ein einundzwanzigjähriger Mann in Wien in sein Tagebuch schreibt, handelt von Qual. Hände kollidieren darin mit den Jahreszeiten und der Ewigkeit der Qual. Es ist kein besonders gutes Gedicht, aber es hat gute Zeilen („einmal war Flieder“), es wurde auch nicht geschrieben, um im literarischen Wettstreit zu bestehen. Es ist sozusagen privat – aber es will natürlich sprechen. Es versucht etwas von der Qual dadurch zu mildern, das sie sagbar wird. Es weiß nicht wie und warum – aber irgendwie sagbar, vielleicht leise, aber raus aus dem Unsagbaren, raus aus dem Bett der Minderwertigkeit. Wenn man von der Qual erzählt, gibt es vielleicht danach die Frage nach dem Warum dieser Qual. Vielleicht kümmert es einen, vielleicht hört einer hin und rätselt und fragt oder besser: fühlt nach.

Verstrickt. Seinen eigenen Kokon haben, hineingestrickt in ein eigenes Schicksal, das einen herumreicht als Paket. Warum? Die größte aller Fragen mit aufs Papier, wohlwissend: eine Antwort hat keiner. Eine Frage, die keine Antwort will, sondern nur anzeigen: hier hadert einer mit der Welt, fragt nach ihrem Sinn. Warum gibt es die Ewigkeit der Qual? Und das ausgerechnet wenn die Sonne scheint oder zu scheinen beginnt: am Morgen, im Frühjahr, im Sommer. Wenn wir erwachen, frisch sind und leichtfüßig, durch die Wärme schlappen hemdsärmelig und ohne Gepäck.

„Jeder Tag ist eine neue Qual.
Die Hand! die Hand! die Hand!
Warum darf das Sichtbare das Unsichtbare töten?
Warum darf das Fühlbare das Gefühlte töten?
Warum darf das Zufällige das Notwendige töten?
Warum gibt es keine Erlösung im Geist? -
Ich muß mich betäuben.“

Der Tagebuchschreiber verzweifelt an Fragen nach dem Warum. Das Tagebuch liegt vor. Es erschien 1921 im Genossenschaftsverlag in Wien in der spätexpressionistischen Reihe „Die Gefährten“ unter dem Titel „Der Krüppel – Tagebuchblätter und Aufzeichnungen aus dem Nachlass N.R.'s, ausgewählt und herausgegeben von Stefan Tafler“ - und wir erfahren auf dem Blatt hinter dem Innentitel: „N.R., geboren 1889 in Wien, verlor 1902 an den Folgen eines Sturzes vom Fahrrad die linke Hand und endete 1919 in Linz durch Selbstmord.“

Die Hand also. Als Dreizehnjähriger braust er die Donau entlang, ungestüm, es ist Frühsommer, die Pappeln rascheln und im blinkenden Wasser marschiert ein Schwan auf, er sieht ihn gerade in die Luft hineinfallen, als ein großer Kiesel das Rad blockiert und den verdutzten Buben in hohem Bogen in ein neues Schicksal wirft. Vielleicht so.

Vielleicht ist die Hand zertrümmert, zerbrochen, weil sie auf einen Stein prallt, vielleicht entzündet sich was und wird böse. Es heilt nicht. Die Hand muß ab. Oder andersrum: eine abbe Hand muß hin. In die anspringende Pubertät, in die Antworten, die man sich in eine Welt voller Fragen geben will, platzt die abbe Hand wie ein unüberwindbares Nein. Du kannst nicht mehr. Aus dem Nichtkönnen leitet sich ab: du bist jetzt ein Krüppel. Eine künstliche Hand wird angepasst, ein Ding, das immerzu erinnert. Winterüber läßt es sich im Mantel verbergen, im Sommer liegt es da und wird gesehen. Es wird angeschaut. Die angeschaute Hand macht den Buben in einer Weise angeschaut, der er machtlos gegenüber steht. Er fühlt sich beantwortet und hat doch gar keine Frage gestellt. Vielleicht ist es nicht die abbe Hand, sondern das Ding, das quält. Er ist ein Bub, der das nicht entscheidet. Er überläßt es und fühlt sich überlassen.

Die Geschichte geht weiter. Er wird krank von dem Ding. Gemütskrank und die Mutter schreibt ans Gericht: „ … er ist nicht nur körperlich ein Krüppel, sondern auch geistig.“ Das Fehlen wird zum Defekt. Er ist hilflos und sehr allein - er solle doch nicht und das geht doch schon, und man müsse sich am Riemen reißen. Die Eltern haben keinerlei Geduld oder gar Verständnis. Nichts geht, nicht einmal Nägel schneiden. Und was ist mit den Frauen. Hat er nicht die Schönheit geliebt und sich der Schönheit nähern wollen. Das ganze Programm: einer Frau streichelnd beiseite liegen und sie mit starken Armen über die Schwelle in ein neues Leben tragen. Und jetzt ist er ein Krüppel, den niemand will. Was ist schön an einem Krüppel? Die Mutter pflastert das Haus bis in die Flure mit Bildern und Kunstgegenständen – durch das er schleicht, während links seine Holzhand an Lederbändern baumelt. Sie flüchtet aus der Gegenwart ihres Mannes und einer heimlichen Abscheu in eine herbeigeträumte Schönheit und eine vorgetäuschte Herzgeschichte – da steht der Bub im Weg, den der Vater grün und blau schlägt seit der Bub denken kann und sich einen Spaß aus dessen Schreckhaftigkeit macht. Er lauert in die Stille einer Gelegenheit und verschreckt den Buben regelmäßig, nur um ihn bloßzustellen, auf dass er hart werde gegen die Welt. „Schlagen kannst du ihn ja“, sagt die Mutter, „aber nicht blau!“. Wenn der Bub weinend dasteht, mit Striemen am Leib, hat sie es am Herz.

Er flüchtet sich ins Schreiben. Nicht ins literarische, obwohl er das drauf hätte. Aber dazu müßte er anderes schreiben als das, was er vorhat und das, was ihn trägt. Und außerdem: da er seine Antworten hat, weiß er es schon vor dem Versuch besser: „es ist unmöglich, und tatsächlich gibt es kein Beispiel dafür, dass ein Mensch mit einer fehlenden Extremität Künstler gewesen wäre.“ (Cervantes verlor als 24-jähriger nach einer Verwundung in der Schlacht bei Levante die linke Hand, merkt hier der Hrsg. an). Er liest viel, Whitman, Altenberg, den er kennenlernt. Die Welt der Literatur, die ihm nicht auf die Hand schaut, ist eine willkommene Welt. Altenberg sagt: „Unser Glück, unser Unglück ist nur das, was wir darüber denken.“ Aber N.R. widerspricht ihm: es sei nicht sein Denken, worunter er leide, sondern das der anderen. Es sei die Ablage, die die Verlegenheit schafft. Altenberg erzählt von seiner Glatze, unter der er, davon wüssten die andern gar nichts, schon immer zu leiden hätte.

Furchtbar wird der Defekt, wie ihn N.R. nennt, wenn es um Liebe geht. Er verweigert die Liebe, weil er nicht will, dass er angesehen wird. Er will nicht nackt sein. Er will nicht der Mann ohne Hand sein, der darunter leidet, ohne Hand zu sein. Er will nicht, dass seine Abbé Hand zwischen ihm und seiner Geliebten liegt. Er hat den Traum des Dreizehnjährigen nie aufgegeben, schön sein zu zweit, bis in alle Haarspitzen schön weil angstfrei. „Liebe ist der Treffpunkt dieser zwei Reiche: Sichtbarkeit und Verborgenheit.“ schreibt er, kurz vor seinem Tod. „Wo Liebe ist, ist auch Licht“ sagt ein altes Sprichwort. Er hat Angst vor dem Defekt. Der Defekt ist eine Wahrheit, mit der man nicht spielen kann.

Also spielt er. Versucht es. Ist mit einer Dame im Zimmer, sie liegt in schwarzer Seide auf dem Ottomanen und weiß um die Hand. Also rollt sie sich die Strümpfe selber herunter und lässt sich die Kleider herunterküssen, sehr langsam, weil es nicht schnell gehen kann und seine intensiven Küsse ablenken sollen von offenliegendem Holz und Leder. Er küsst mehr als genug, immer bedacht, sie möge nicht aufschauen, nicht hinschauen, nicht in diesem Moment wahrnehmen, was wahr ist.

Die Küsse sind unwahr, nicht der Stumpf und was daran steckt. „Sie gerät unter meinen Theaterküssen in Glut.“ schreibt er, „Ich bleibe innerlich kalt, spiele aber anstandshalber Erregung. Dieser Gedanke Hand lässt mich nicht aus mir heraustreten. Er hält mich um krallt.“ Er kniet sich zwischen ihre Beine und leckt sie, während er den künstlichen Unterarm wie zufällig unter ein Laken schiebt. Sie bäumt sich unter seinem Zungenspiel, das er ausdehnt und intensiviert, damit sie irr wird von seiner Liebkosung, irr genug, ihn nicht in sich haben zu wollen, irr genug, dass er nicht auf sie muss mit seinem Stumpf und dem Holz und dem Leder. Aber sie will ihn trotzdem oder umso mehr, geht ihn an, setzt sich auf ihn und er hat gerade noch Zeit, seinen falschen Arm in ein Polster zu klemmen. „Sie genießt voll, ist aufgelöst in Wonne. Ich trinke einen bitteren Trank. Keine Sekunde hat mich die innerliche Angst verlassen.“

Das alles steht in seinem Tagebuch. Schreibend gibt er etwas, was er im Leben nicht kann. Da muß er verstecken. Nichts hilft ihm heraus. Und da er versteckt, ist er nicht wahr. „Das Massaker der Liebe in mir kann ich nicht überleben.“ Sobald offenbar wird, dass der Krüppel in ihm sein eigener Krüppel ist, den er aufs Tiefste verabscheut, dass er sich anschaut mit Selbsthass und Opposition, fühlt er sich explodieren unter den Blicken der Welt, ist er vollkommen hilflos und sackt zusammen. Er will aus Liebe übersehen werden und doch wiederum gesehen. Er will, dass die Liebe aus dem Stück Holz macht, daß es irgendwie wieder aus Fleisch ist, und nicht die Leere, die unterm Stumpf anfängt den Raum zu erfüllen.

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