Fragwürdig: ein Bestsellerautor über den Holocaust
Der Roman heißt „Charlotte“, er will das kurze Leben von Charlotte Salomon erzählen. 1917 in Berlin geboren und 1943 im Alter von 26 Jahren in Auschwitz gestorben. Sie war Malerin, sehr musikalisch und als Schriftstellerin tätig. Sie hinterließ eine über tausend Seiten umfassende Sammlung von Gouachen, von den sie knapp 800 Seiten für einen „Singespiel“ genannten Band aussuchte – sowohl Zeichnungen als auch Texte unter dem Titel: „Leben? oder Theater?“ Aus diesem autobiografischen Fundus schöpft der französische Bestsellerautor David Foenkinos in seinem mit dem Prix Renaudot und 2014 mit dem Prix Goncourt des Lycéens ausgezeichneten Roman, dem kleinen Bruder des Prix Goncourt an sich.
Nun ist „Charlotte“ bei der DVA in der Übersetzung von Christian Kolb erschienen, der alle bisher in Deutschland erschienen Werke Foenkinos übertrug. Es ist nicht so, wie Foenkinos behauptet, dass Charlotte Salomon in Vergessenheit geraten ist. Schon zu ihrem 100. Geburtstag 2007 gab es fünf Filme, etliche Ausstellungen und 2014 folgten Theaterstücke, darunter eine Operninszenierung zu den Salzburger Festspielen unter der Regie von Luc Bondy. Unter Recherchieren versteht der 40-jährige Autor von elf Büchern, die in 40 Sprachen übersetzt wurden, etwas anderes, dazu später.
Charlotte Salomon entstammt einer assimilierten jüdischen Familie, die mütterlicherseits ein schweres Erbe mitbrachte. Ihre Tante brachte sich im Alter von 18 Jahren um, sie hieß ebenfalls Charlotte, ihre Mutter brachte sich um, als Charlotte neun Jahre alt war. Der Vater heiratete erneut, eine Sängerin, die Licht und Musik in das Leben des sensiblen Kindes brachte. Das Verhältnis zur Stiefmutter gestaltete sich ebenfalls nicht einfach, zumal beide später vermutlich den gleichen Liebhaber hatten. Obwohl bereits die Rassengesetze herrschten, konnte Charlotte Salomon 1936 an der heutigen Universität der Künste Berlin immatrikuliert werden, weil eine Klausel einen geringen Prozentsatz an jüdischen Künstlern zuließ. Doch bereits eineinhalb Jahre später verließ sie die Universität; ein Preis, der ihr eigentlich zuerkannt war, musste an eine Arierin vergeben werden. Sie ging zu den Großeltern nach Frankreich, doch ihre Großmutter folgte den Töchtern in den Tod, als Charlotte 22 Jahre alt war. Dies und ihre – zum Glück befristete –Inhaftierung in einem Lager ließen sie verzweifeln. Danach entstanden in eineinhalb Jahren die tausend autobiografischen Gouachen. Ein unglaublicher schöpferischer Akt in dieser schweren Zeit, in der sie auch heiratete. Sie und ihr Mann wurden verraten, sie starb in Auschwitz, da war sie im fünften Monat schwanger.
Diese berührende und brennende Lebensgeschichte erzählt nun der Bestsellerautor Foenkinos auf knapp 240 Seiten. Aber wie! Schon der Schriftsatz lässt einen das Buch wieder zuschlagen. Hauptsätze wie Hammerschläge und damit sie auch noch mehr wehtun, bekommt jeder kurze Satz eine eigene Zeile, was manchen französischen Kritiker dazu verführt hat, das Poesie zu nennen. Ich finde, solche Sätze, von denen heute Redakteure von Kinderbüchern meinen, nur so verstehen Grundschüler einen Text, sind eine Zumutung. Nichts fließt. Scheinbare Bedeutsamkeit reiht sich an scheinbare Bedeutsamkeit. Beispiel:
„Der Zeichenkurs ist eine lausige Angelegenheit.
Die Lehrerin befindet sich noch auf dem Stand von 1650.
Sie trägt immer dasselbe unförmige beige Kostüm.
Mit ihrer dicken Brille sieht sie aus wie ein Frosch.“
Das ist, wohl bemerkt, keine Figurenzitate, sondern das ist der Ton des Erzählers. Der auch noch seinen „Stil“ begründet:
„Konnte ich aus Charlottes Geschichte einen Roman machen?
Welche Form sollte das Ganze annehmen?
Ich schrieb, löschte, kapitulierte.
Ich brachte keine zwei Zeilen zu Papier.
Nach jedem Satz geriet ich ins Stocken.
Es ging einfach nicht weiter.
Das war körperlich beklemmend.
Ich spürte beständig das Verlangen, eine neue Zeile zu beginnen.
Um durchatmen zu können.
Irgendwann begriff ich, dass ich das Buch genauso schreiben musste.“
Auch konnte er dem Verlangen nicht widerstehen, sich als Erzähler einzubringen. Gleich zu Beginn gibt es eine überflüssige Nebenbemerkung, dass er gern einen Roman mit dem Titel Savignyplatz geschrieben hätte, mit der völlig unerheblichen Begründung, dass dieser Name in ihm was zum Klingen bringt. Es ging dabei um die Adresse der Salomons, die in der Wielandstraße in der Nähe des Savignyplatzes gewohnt haben. Wo er denn auch im Zuge seiner „Recherchen“ (die Jahreszahl schreibt er nicht, aber vermutlich 2012) an der ehemaligen Wohnungstür der Salomons klingelte, gemeinsam mit einem Übersetzer, um zu sagen, dass hier Charlotte Salomon gewohnt hat (wie gesagt, das schreibt Foenkinos alles in seinen Hammersätzen). Und wundert sich dann, dass beiden die Tür vor der Nase zugeschlagen wird. Nennt er das Recherche? Ohne Vorankündigung zu zweit dort klingeln?
Weiterhin besuchte er im Zuge seiner „Recherchen“ die Villa am Wannsee, die durch die gleichnamige Konferenz „in die Geschichtsbücher“ eingegangen ist. Hier versucht er es zunächst mit Ironie:
„Reinhard Heidrich leitet eine kleine Dienstbesprechung.“
Um ein paar Zeilen später das mit seinen Gefühlszuständen beim Anblick des Konferenztisches zu kontrastieren:
„Doch nun hatte ich das Gefühl eines eisigen Schmerzes.
Der langsam meine Wirbelsäule herunterkroch.“
Diese Art Geschichte zu erzählen ist höchst fragwürdig. Einerseits die alberne Ironisierung, auf der anderen eine absurde Emotionalisierung, beides unangemessen, unglaubwürdig, unwürdig.
Doch nicht genug. Noch seltsamer scheint, dass sich ein Autor der Person, deren Leben er sich nähern will, mit seinen Männerphantasien anbiedert. In einer Liebesszene heißt es:
„Er fasst sie härter an als beim ersten Mal.
…
Mit seinen Vorlieben scheint sie sich übrigens bestens auszukennen.“
Mich stört hier vor allem das „übrigens“, dass etwas Abwertendes hat. An keiner Stelle klärt uns der ansonsten geschwätzige Autor darüber auf, woher er seine Unterstellungen nimmt. In einer Vorbemerkung sagt Foenkinos, dass die Quelle für seinen Roman das autobiografische Werk „Leben? Oder Theater?“ von Charlotte Salomon ist. Aber wie er von den Zeichnungen und übrigens auch vielen Texten auf seine Details kommt, verschweigt er, er zitiert sie auch nicht. Ich finde das unzulässig.
Es erscheint mir regelrecht gefährlich, in dieser Weise das Leben von Personen darzustellen, die eine reale Biografie haben. Und erst recht, wenn es sich um einen Menschen handelt, dessen kurzes Leben in Auschwitz endet. Adornos Aussage vom Schreiben nach Auschwitz, das barbarisch sei, erhält mit diesem Buch eine neue Dimension.
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