… dass das Gefängnis nicht im Gefängnis anfängt.
Daniel Defert führte und führt hoffentlich auch noch lange "ein politisches Leben", wie der Titel des lesenswerten Merve-Bandes lautet, den es anzuzeigen gilt. Defert wurde unter anderem durch seine Beziehung mit Foucault, der bekanntlich an Aids starb, vom akademischen Soziologen zum politisch aktiven Menschen; liest man freilich seine Erinnerungen, erkennt man: Er war dies immer. Er war es schon als Kind; seine Erinnerungen, die hier im Gespräch erstehen, etwa die an die Besatzung, aber auch die Befreiung, sind schon solche in Worten, die dies verraten.
Es gehe um Gedankenlosigkeiten, die man aufdecken müsse, so schildert er sich und sein Leben; das sei Befreiung, das ist diese auch dort, wo mancher akademische Diskurse losgelöst von der Realität vermuten mag, im Elfenbeinturm. In Deferts Worten:
Jede Befreiung enthüllt das Ungedachte der Ungerechtigkeit, die ihr vorausgegangen ist
– weshalb er sich als Knabe mit den Soldaten auch des Widerstandes weniger identifiziert haben mag, als mit den Krankenschwestern. Oder mit den Opfern, den Ausgebeuteten, im Falle von Aids: den Marginalisierten.
Die Verachtung derer, die die Ungerechtigkeit verbreiten, ist ihm ebenfalls früh eigen, er beschimpft die Besatzungssoldaten („Boches”), ein Offizier wirft daraufhin das Spielzeug des Knaben ins Feuer; als ihm aber später die Besatzungssoldaten neues Spielzeug geben, ist nicht das erfahrene Unrecht, sondern die prinzipielle Situation für ihn das Problem, auch diese Soldaten beschimpft er, er analysiert sie aber auch:
Du, die Boches, einen Tag zufrieden, einen Tag nicht zufrieden…
Diese Klarheit prägt die Erinnerungen, die aber auch durch diese Klarheit befragt werden:
Ich weiß nicht mehr, ob sich die Szene wirklich so abgespielt hat, doch sie gehört zu meinen Überzeugungen.
- kann man schöner umreißen, was Erinnerung ausmacht, ihre Performanz, ihre Bedeutsamkeit, und zwar ohne ein rasch auch krudes Rekurrieren auf Fakten ... ?
Verhandlungen, bei denen man viel Zeit braucht, ihnen einen Namen […] zu geben ...
..., machen die Erinnerung aus – und das, was man nur leichtfertig sogleich als fertige Natur umschreiben könnte, wie Defert etwa über seine Homosexualität und seine Identität –
Knabe? Mädchen?
– im Gespräch nachdenkt. Wird nicht
verurteilt, sondern verhandelt,
so ist Gerechtigkeit möglich.
Mit Michel Foucault ist Defert seit September 1960 bekannt; früh fasziniert ihn „die außergewöhnlich zärtliche und respektvolle Beziehung” Foucaults zu einem Studenten – sie ist anders als jene Art von Verhältnis, worin Menschen
gleichzeitig verführen wollen und befürchten, ausgenutzt zu werden
- wie Defert es nur ex negativo, also ebenso zärtlich und respektvoll, wie es das ist, worum es ihm geht, beschreibt. Zugleich ist in dieser liebevollen Art eine
Schalkhaftigkeit.
Deren Gegenüber formiert sich in der
Zurschaustellung der Gewalt
..., in ihrer Wirklichkeit, wo Defert oder Foucault in Möglichkeiten denken, dem
Vervielfältigen und Knospentreiben
verbunden sind, der
autonome(n) Steigerung […] der geringsten Möglichkeiten
..., wie es bei Foucault ("Von der Freundschaft als Lebensweise") heißt. Doch nicht mutlos, sondern "ironisch" begegnet all dem Foucault, der die tunesischen Gefängnisse kennt, neben denen die Degressionen in Frankreich und Europa noch "aufhaltbar" erscheinen. Dies und der Einsatz –
keine Politik ohne Logistik
– wird von Defert geschildert, dabei werden jene Grundsätze immer klarer entwickelt. Es sind solche des Verhandelns. Denn, auch dies ein Satz, den man fast täglich zitieren könnte:
Man weiß sehr gut, dass das Gefängnis nicht im Gefängnis anfängt.
Aus alldem entfaltet sich neben dem Denken auch Deferts Darstellung jüngster französischer Geschichte, in die er im Kampf gegen die Marginalisierung vor allem von Aids intervenierte, etwa die Geschichte von AIDES, das in Frankreich eben nicht nach "Aids" klang, das im französischen Raum als "Sida" bekannt ist – und das „s” sollte "soutien" (Unterstützung) oder "Solidarität" mehr denn "Syndrom" bezeichnen, eine dieser vielen kleinen Verschiebungen: aus Überzeugungen. Aus diesen ergeben sich die Eruptionen, die zärtlichen, die besorgten:
»Verdammt, du machst mir wieder Lust zu leben.«
Lust zu leben, Lust zu lesen. Defert schreibt nicht gerne, doch, so sagt er:
Die Gegenwart schreibt sich in mich ein.
Man lese also, was ist, durch und mit Defert – in diesem außergewöhnlichen Band.
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