Of terrestrial, non-anthropogenic environments
"Anthropozän. Dichtung in der Gegenwartsgeologie", lautet der volle Titel von Daniel Falbs schmalem Büchlein. Und schon kommt Mißtrauen auf: Dichtung und Geologie? Wirklich? Das wird einige Überzeugungsarbeit brauchen...
Auf fünfundvierzig Heftchenseiten nebst Anhang organisiert Falb eine Reihe von Texten, Theoremen und sozialen Zusammenhängen der Literaturgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts um den titelgebenden Begriff "Anthropozän" herum. Dieser Begriff geht, wenn wir dem Büchlein folgen, auf den Geologen Jan Zalasiewicz zurück, und bezeichnet ein hypothetisches neues Erdzeitalter, abgegrenzt vom Holozän, wie wir es noch aus dem Erdkunde-Unterricht kennen. Wir zitieren zu Definitionszwecken mit Falb einen Aufsatz von Will Steffen et al.:
The term Anthropocene suggests: (i) that the earth is now moving out of its current geological epoch, called the Holocene, and (ii) that human activity is largely responsible for this exit from the Holocene, that is, that humankind has become a global geological force in its own right.
Ausgangspunkt von Falbs Organigramm einer "Anthropozän-Literatur" ist dabei das scheinbare Paradoxon, das sich aus Zalasiewiczs Gedankenspiel von nach- oder nicht-menschlichen Forschern ergibt, die auf einer menschenleeren Erde der fernen Zukunft Sedimentschichten untersuchen und so auf Spuren der Menscheit stoßen:
Wenn die Wissenschaflichkeit geologischer Aussagen an das Argument am Stratum gekoppelt ist, dann kann das Anthropozän nur in den Geltungebereich einer wissenschaftlichen Geologie fallen, wenn man ihm ein Stratum zuordnet - und sei es eines, das noch gar nicht existiert (...) Das zukünftige Stratum aber impliziert zukünftige Geolog_innen, die es untersuchen: (...)
Diese futurogeologische Logik jedoch drängt Zalasiewicz (...) in Regionen, die Kant als "transzendentalen Schein" bezeichnet und in der [SIC!] man protoreligiöse Figuren wie Aliens oder Untote ebenso beobachtet wie man den Geltungsbereich menschlicher Angelegenheiten und Werte plötzlich in jene unermesslichen Räume und Zeiten heinein ausgeweitet findet, die sich jenseits des raumzeitlichen Orts der Spezies (...) erstrecken.
Solange Falb sich mit dem geologischen Anthropozänbegriff und der dazugehörige Diskursgeschichte beschäftigt, ist sein Buch explizit ein Werk der Fundamentalkritik an dem
protoreligiöse[m] Trash
von Zalasiewicz et al. Insoweit gehört es der problematischen, oft unterhaltsamen, manchmal, wie hier, auch produktiven Gattung von Büchern an, in denen Bewohner von geisteswissenschaftlichen oder sonstwie "kulturellen" Begriffsplaneten sich über die Welt der "hard sciences" äussern, versuchshalber, als läge da kein Kategorienfehler vor (und wir denken uns die Ähnlichkeit zu den oben im Zitat beschriebenen Alien-Geologen nicht ohne zu schmunzeln).
Diese Grundhaltung der Fundamentalkritik ändert sich unter der Hand in dem Moment, da es in "Anthropozän" um Literatur zu gehen beginnt - und um die Frage, wie eine "Literatur des Anthropozäns" beschaffen sein könnte. So mißtrauisch und sarkastisch Falb dem Begriff und seiner Herkunft zuerst gegenüberzustehen scheint, so ernst nimmt er gleich darauf ihn und die ihn umgebenden "Narrative", wenn es darum geht, einer Anthropozän-Literatur, einer Anthropozän-Poetik nahezukommen. Die zwei Textkulturen, die für Falb die wichtigsten Schritte in der Entwicklung einer "Anthropozän-Dichtung" zu repräsentieren scheinen, geben dem Kapitel "Genealogien der Dichtung im Anthropozän" die Zwischenüberschriften:
US-Amerikanische Westküste, 1968
und
Deutsche Nordseeküste, 1984
... wobei zweitere Station (oder "Genealogie") fast als Antithese zu ersterer beschrieben wird. Die poetologischen Diskurse eines Schreibens vor dem Hintergrund des 1968 ff aufkommenden Raumschiff-Erde-Bewusstseins, die Falb schildert, decken sich nicht genau und nicht simpel mit Spät-Beat oder mit Hippie-SciFi-Kultur. Obwohl die Szenen Schnittmengen aufweisen - entscheidend sind die kleinen Unterschiede. Ähnliches gilt 1988 für einerseits die linksalternative Szene in Deutschland kurz vor dem Ende des kalten Krieges mit all seinen Gewissheiten und andererseits die tendenziell anti-technische
anarchistische Ökolyrik
einzelner Protagonisten jener Zeit.
Von der Literaturgeschichte schreitet der Band fort ins Poetologische, von dort ins Normativ-Setzende (sofern ich jenes letzte Kapitel, "HAL", das sich mit "Post-Internet Poetry" beschäftigt, richtig verstanden habe). Die Verkettung der einerseits wissenschafts-, andererseits literaturgeschichtlichen Phänomene, die mit der kollektiven Erkenntnis der menschlichen Verantwortung für den Zustand der Erde im Lauf der letzten sechzig Jahre einhergegangen sind, sitzt und passt auch hier. Viele der "greatest hits", die man sich nach den ersten zwei-drei Seiten von dem Büchlein erwartet hat, kommen an ihren triftigen Stellen vor: Der Whole Earth Catalog, Bucky Fuller, Michael McClure, der Topos Wendland usw. (manche fehlen: William Gibson und Jeff Noon, Virilio, falls ich ihn nicht überlesen habe; Alejandro Jodorowskys Incal-Comics...)
Man mag Daniel Falbs Poetik eventuell entgegenhalten, dass es nicht unbeding schwer sei, um einen beliebigen Begriff herum die Rudimente einer je passenden Literaturgeschichte zu montieren - Textmaterial gibt es in der Welt genug. Eventuell dürfen die letzten paar Sätze des Bandes als Antwort auf diesen naheliegenden Einwand gelesen werden; als Begründung, warum "Anthropozän" keineswegs irgend einen arbiträren Zierpfahl am Begriffszirkusgelände darstellt, um den man mal eben zum Spaß herumtanzen würde ... sondern einen strategisch entscheidenden Punkt am derzeitigen Zustand der Welt (und der Sprache von der Welt) berührt:
(...) die Erkenntnis, dass die Materialität des Internet mit der Materialität der ganzen Erde konvergiert, ist die Zukunft der Dichtung Post-Internet.
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