Jagd ohne Ende
Thomas Kunst ist nicht so gut darin, Romane zu schreiben. Denn eigentlich schreibt er lediglich lange Prosagedichte, die hin und wieder von gebundener Sprache aufgebrochen werden und notdürftig als Roman deklariert werden. Was bleibt einem Verlag denn auch anderes übrig? Freie Folge ist schließlich selbst mit dem beruhigenden Zuspruch, es handle sich um ein leicht kategorisierbares Stück Literatur, schwer zu verdauen.
Der Clou allerdings ist, dass nichts an Freie Folge überhaupt verdaut werden muss. Es ist ein verschiedene auf rätselhafte Weise überlappende Erzählstränge collagierendes poème en prose, das sich mit aller Interesselosigkeit am undurchsichtigen oder so gar nicht existenten Plot schlicht genießen lässt. Wenn aber nicht ganz klar wird, was das rumänische Au-Pair Ioana in Baden-Württemberg verloren hat, wie sich ihre heimliche Beziehung zum Familienvater, dem Ehemann Ihdes, gestaltet, wer überhaupt diese Briefe über das Leben in Grönland schreibt und wer die aus den USA, so steht am Ende doch eines fest: Das Herz, es bleibt ein einsamer Jäger. Und die Jagd, sie findet kein Ende.
Kunst schreibt in Freie Folge um seine Personen und Geschichten herum. Sie konkretisieren sich nicht, werden eher durch die Worte charakterisiert, die sie einander schreiben. Seine Figuren »zu beschreiben, würde zu weit führen«, lautet einer der wenigen, subtil eingeflochtenen Refrains des Textes, der formale Brückenschläge dort schafft, wo Narration, diegetische Geografie und sogar erzählte Zeitordnungen aufgelöst werden. Es scheint, als sei jedes Wort nur eine Metapher für ein anderes, der ganze Text ein Hypertext seiner selbst.
Das klingt wohl unsexy, leidenschaftslos und verkopft – doch es ist das genaue Gegenteil davon. Die Jagd, aus deren Jargon sich Freie Folge unter anderem den Titel leiht und welche das prominenteste der zahlreichen Leitmotive des Textes liefert, ist nicht allein Metapher für die Sehnsucht der ProtagonistInnen, sondern auch der Rezeptionshaltung: Es ist eigentlich unmöglich, Kunsts sprunghaften Perspektivwechsel, die zum Teil die Sprecherrollen vertauscht, hinterherzujagen. Was es umso verführerischer macht, genau das zu versuchen. Freie Folge stellt eine Herausforderung dar, ködert mit Querverweisen und wiederkehrenden Momenten, die Strukturen dort aufbauen, wo Strukturen eigentlich schon überwunden sind.
Die Jagd findet kein Ende, und die Geschichte wird genauso »nie Geschichte sein«, wie die letzten Worte des Romans, der im Grunde keiner ist, lauten. Freie Folge verwehrt sich mühelos dagegen, Geschichte zu sein, sowohl in historischer wie narrativer Hinsicht. Diese Verweigerung ist indes keine renitente, sondern eher die eines eleganten Ausfallschritts. Thomas Kunst mag vielleicht nicht so gut darin sein, Romane zu schreiben. Er ist umso besser in dem, was er stattdessen macht. Sein langes Prosagedicht Freie Folge funktioniert deshalb umso eindrücklicher als abstrakte, sich entziehende Erfahrung einer abstrakten, sich entziehenden Erfahrung. Ein kafkaesker Text eigentlich, der von seiner eigenen Lektüre spricht und gleichzeitig mit sich selbst.
Diese gedoppelten Erfahrungen doppeln sich ein weiteres in der dem Buch beigegebenen CD mit 15 Stücken, die Kunst unter seinem Alias Mitleid in Toronto produziert hat. Auf einem dicht gestrickten Geflecht aus Feldaufnahmen und Sprachsamples, die ebenso verschwommene Orts- und Zeitmarken setzen wie der Text, entfaltet der Musiker Kunst eine Klangsprache, die der des Schriftstellers nicht unähnlich ist. Während Freie Folge (der Text) von seinen abrupten Sprüngen, kurzen Einschüben und pathetischen Auslassungen lebt, entwickelt sich Freie Folge (das Album) ebenso als spielerisches Ringen um Strukturen, die eigentlich von Vornherein überwunden wurden. Hier schleicht sich ein stoischer Drumcomputer-Beat in den von schillernden Drones dominierten Mix, dort verschwindet er wieder unter Wassergeplätscher und kehrt dann doch eine halbe Minute wieder. »Calypso« heißt der Track dann. Es wäre ein sehr steifer und zugleich wackliger Tanz, der sich dazu aufführen ließe. Die Dialektik des unerfüllten Verlangens, der Jagd, sie wird auf Freie Folge (dem Album) hörbar.
Als eines fungiert die Musik jedoch nicht: Als erklärendes Beiwerk. Selbst die Tracks, die mit ihren Titeln direkt auf den Text verweisen wie etwa das von zerrigen Gitarrenlicks geprägte »Pipaluk«, das in aneinander vorbei laufenden Rhythmen zerfällt, lassen kaum Rückschlüsse über ihren Zusammenhang zu diesem zu. Doch funktioniert die zum Teil in esoterische Sounddesignspielereien abdriftende Musik gerade deswegen so perfekt als Book Score von Freie Folge, weil sie mit ihren andeutungsreichen Ausflügen in Richtung Ambient, elektrischer Gitarren-Improvisation und hypnagogischem Downbeat dessen eigentümliche Strukturbrüche nicht nur spiegelt, sondern auch mit denselben Bewegungen in einem anderen Medium komplimentiert. Denn wo Kunst mit Musik oder Text eigentlich hinwill, das bleibt im Verborgenen. Es geht aber auf Freie Folge nicht ums Ankommen, sondern um die Jagd. Sie findet kein Ende, aber sie macht sich mit evokativer Kraft erfahrbar.
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