Die Aktion vor 100 Jahren (5)
Tote Soldaten an der Westfront (Quelle: La Grande Guerre, S. 34)
Es ist das Kriegsjahr 1916, das in der „Blutmühle“ Verdun seinen Höhepunkt findet. Helmut Kremers erinnert in den Zeitzeichen: „1914 hatten sich Engländer und Deutsche noch an den Feiertagen zwischen den Fronten getroffen, Lieder gesungen und Fußball gespielt. Das war vorbei.
Der Theologiestudent Johannes Haas schrieb im Januar 1916 nach Hause: „Natürlich die Leutnants wundern sich, daß die Leute nicht mehr wollen. Die ‚Sekt-und Weinkäuze‘ feiern; wir kommen im Dreck um und erhalten 1 1/2 Löffel Abfallmarmelade und 14 Stück Zucker zu Weihnachten. Der Mann, dem der gemeine Soldat einzig noch Sympathien und Vertrauen entgegenbringt, ist der Schreihals Liebknecht…“ … „Soeben habe ich,“ schilderte der Jurastudent Hugo Müller, wohl einer der „Sektköpfe“, also Leutnant, „einen Brief an den Vater eines vorgestern gefallenen Unteroffiziers meines Zuges geschrieben. Wenn die armen Eltern ihren Sohn gesehen hätten! Eine Granate hatte ihm den Kopf weggerissen, das Gehirn haben wir buchstäblich mit dem Spaten zusammengekratzt. Solche Bilder gehören nicht zu den Seltenheiten des Schützengrabenlebens! Auf den Wagen, auf denen das Essen abends herausgefahren wird, bringen sie dann diese blutigen Reste einstigen stolzen Menschentums zurück.“ Müller fiel am 18. Oktober 1916, vierundzwanzigjährig, bei Warlencourt.“
Franz Pfemferts AKTION erschien unentwegt und brachte immer wieder „Gedichte vom Schlachtfeld“. Viele der Autoren jener Zeit haben ihre Soldatenzeit nicht überlebt (siehe Lost Voices).
Otto Steinicke (1891-1943), ein junge Mann aus der Arbeiterschaft, hat es und es finden sich zwischen April 1915 und Oktober 1918 genau zehn Texte in der AKTION, alles Gedichte oder Prosagedichte (und fälschlicherweise als Prosa deklariert; Steinicke fand gegen Ende des Kriegs keine Verse mehr, die etwas sagen konnten, sondern arbeitete ohne Bruch – vielleicht, weil ohnehin alles zerbrochen war: „Ich erinnere mich meiner tierischen Herkunft. Bewußt mit dem zögernden Grinsen des Zwanzigjährigen in der Müllgrube bei Eiterbein und dem Schluchzen kaukasischer Blondschädel … Ich stehe ungerührt vor den trüben Tümpeln meiner Augen , ...“ schreibt er im Oktober 1918 in der Aktion).
Erst 1926 erschien von ihm ein Band Gedichte im Neuen Deutschen Verlag – er nannte ihn „Die Moskauer Knute. Ein Bändchen Zeitgeschichte.“ Steinicke war inzwischen politisiert, schon 1919 beim Vorwärts gelandet und 1922 Redakteur der Roten Fahne geworden und danach angesehener Kritiker für Film und Theater. Unter dem Namen Havelock schrieb er in den Jahren nach dem I.WK Verse für die revolutionäre Arbeiterpresse und versammelte sie in der Knute. 1939 verhilft er dank Quäkerfreunde seiner von ihm geschiedenen jüdischen Ehefrau und der gemeinsamen Tochter in die Emigration nach England und stirbt 1943 im Bombenhagel.
Otto Steinicke
Frühling
Der Tag schreit alle prallen Knospen an.
Ein Warmgeruch frisiert das Rückenmark.
Du fühlst wie tausend Schädel, weiche warme Schädel,
einen Abhang so wie Gras besetzen.
Dazwischen strähnt in fürchterlicher Enge sproßhaftes Blau.
Man sagt, es seien Veilchen. Ich aber sehe nur Gedärme,
dünne, fette Stränge bläulich in der Sonne schimmern.
Auf allen Straßen weint der Tod den Frühling an.
Aus: Die Aktion. Jg. 6, Nr. 24/25, 17. Juni 1916, Sp. 336
Titelbild Die Aktion 24/25 aus dem Jahr 1916
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