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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
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Das Meer und der Norden     Streifzüge von Küste zu Küste     von Charlotte Ueckert
Kritik

Antidepressiva für gebeutelte Linke

Gespräche und Interventionen zu Krise, globaler Bewegung und linker Geschichte
Hamburg

Das Buch „Alle Verhältnisse umzuwerfen …“ besteht aus acht Gesprächen bzw. Interviews sowie acht weiteren Beiträgen, die immer abwechselnd angeordnet sind, gefolgt von einem Anhang, in dem die zehnjährige Geschichte bzw. das Programm des Bildungsvereins der KPÖ (Kommunistischen Partei Österreichs) Steiermark detailliert beschrieben wird. Dieses Jubiläum ist überhaupt der Anlass für das vorliegende Buch. Das lässt zunächst die Befürchtung aufkommen, es handele sich hierbei um einen sehr speziell auf diesen Bildungsverein zugeschnittenen Band, quasi eine Art von Selbstbeweihräucherung. Aber neben dem Anhang geht nur noch ein Artikel speziell auf den KPÖ-Bildungsverein ein, ein weiterer auf die Bildungsarbeit an sich (beide Beiträge sind dann auch von jeweils einem der Herausgeber geschrieben worden). Ich war beim Lesen deshalb angenehm überrascht, dass das Buch bei weitem über seinen Anlass hinausgeht. Das liegt wohl auch an dem Anspruch des Bildungsvereins,

ein offener Ort der kritischen Auseinandersetzung sein zu wollen

was sich auch im vorliegenden Buch entsprechend widerspiegeln soll. Dieses Sammelsurium aus verschiedensten Gesprächen und Artikeln gibt vielmehr eine Vorstellung davon, was es heutzutage heißt, links zu sein. Insbesondere die Interviews befassen sich deshalb auch mit hochaktuellen politischen und sozialen Themen.

In diesem bunten Kaleidoskop, das uns ganz unterschiedliche Menschen – Verlagsleiter, Redakteure, Dokumentarfilmer, Autoren, Musiker, Historiker, Aktivisten, Politologen, Professoren beiderlei Geschlechts –  aufspannen, gibt es aber doch thematische Schwerpunkte, die dann auch in mehreren Interviews bzw. Artikeln wiederholt auftauchen. Schlagworte sind dabei: Geschichte, Flüchtlinge, Griechenland und soziale Bewegungen.

Geschichte ist Hauptthema von zwei Gesprächen und einem Artikel. Bini Adamczak vergleicht die Oktoberrevolution, die sich nächstes Jahr zum hundertsten Mal jährt, mit 1968. Für Adamczak steht 1917 für Gleichheit und 1968 für Freiheit, wobei ihr bei beiden die Solidarität (als "Fraternité" der dritte Wert im Schlachtruf der französischen Revolution) zu kurz gekommen ist. Laut Adamczak ist der Neoliberalismus als Reaktion auf 1968 entstanden, der

viele der Freiheitsimpulse der sozialen Bewegungen aufnimmt und sie für die Profitmaximierung nutzbar zu machen sucht.

George Katsiaficas sieht Geschichte mehr als Wellenbewegungen verschiedener Proteste, wobei für ihn dabei

1968 von welthistorischer Bedeutung ist.

Aber bei aller Beschäftigung mit Geschichte sieht es Adamczak als

die Aufgabe der Linken, die Geschichten der Verlierer*innen zu erinnern und zu erzählen.

Dadurch Geschichte nutzbar zu machen: Laut David Mayer und Berthold Molden

geht es darum, die Geschichte gegenüber den vorherrschenden Kräften für sich zu beanspruchen und sie gewissermaßen als Produktionsmittel der Zukunft in Dienst zu nehmen.

Ein wichtiger wiederkehrender Aspekt ist das Unvorhergesehene von Aufständen, Revolten und Bewegungen. Aber das ist auch ein Aspekt bezüglich jener Flüchtlinge, die die „Festung Europa“ aktuell stark beschäftigen (Lisa Bolyos):

Das Aufregende an diesem Sommer [2015] war, dass plötzlich so unheimlich viel aktivierbar wurde.

In einem Gespräch und zwei Artikeln geht es explizit um Flüchtlinge und Migration. Dabei wird auch diskutiert, inwieweit Flüchtlingshilfe motiviert bzw. intendiert ist, die eigene Gesellschaft durch diese Bewegung zu verändern.

Griechenland hat die Medien im ersten Halbjahr 2015 stark beschäftigt. Deswegen ist es auch Thema vieler Interviews und Artikel in diesem Buch. Zum einen geht es da natürlich das Aufeinanderprallen der linken Syriza-Regierung mit der Europäischen Union. Zum anderen wird aber auch die Bedeutung der Graswurzelbewegungen, Projekte solidarischer Ökonomie etc. in Griechenland (und nicht nur dort) hervorgehoben. Und solche sozialen Bewegungen sind ein wesentliches Moment einer linken Gegenmacht, die Raul Zelik ja gerade als Strukturen bezeichnet,

die sich durch Solidarität, Selbstorganisierung, radikale Demokratie, Kapitalismuskritik und Widerständigkeit gegenüber den Verhältnissen auszeichnen.

Nur ein Gespräch beschäftigt sich mit dem Thema Antifaschismus, also dem Umgang der Linken mit FPÖ, AfD und NPD. Wichtig erscheint mir dabei der Hinweis von Julia Bruns,

sich um genau jene Leute zu bemühen, die jetzt das Gefühl haben, dass sich niemand außer den Rechten um sie kümmert.

Eine Reihe von Artikeln beschäftigt sich mit der Möglichkeit verschiedener Kunstformen, den Kapitalismus abzuschaffen, Strukturen zu verändern oder einen Weg für sich zu finden, um dabei nicht die Waffen zu strecken. Bezüglich Theater äußert sich dazu Tina Leisch, Bernadette La Hengst über Musik und Dominique Manotti über das Schreiben.

Dieses vielfältige Buch kann ich jedem empfehlen, der sich einen Überblick verschaffen will, was es aktuell heißt, links zu sein, und in welchen unterschiedlichen Betätigungen sich dies äußern kann. Dabei werden die verschiedensten Themenfelder behandelt, die wichtigen sozialen Bewegungen als Vorwegnahme einer gesellschaftlichen Veränderung betrachtet, die Bedeutung von Geschichte klargemacht sowie das Potential, das in verschiedenen Kunstformen liegt, ausgelotet.

Karl-Heinz Dellwo · David Mayer · Berthold Molden · Martin Birkner · Lisa Bolyos · Fanny Müller­-Uri · Jakob ­Brossmann · Julian Bruns · Kathrin Glösel · Natascha Strobl · Tina Leisch · Silvia Federici · George ­Caffentzis · Bernadette La Hengst · George Katsiaficas · Leo Kühberger · Raul Zelik · Dominique Manotti · Lukas Oberndorfer · Franz Stephan Parteder · Samuel Stuhlpfarrer · Bini Adamczak · Ernest Kaltenegger · Ernest Kaltenegger (Hg.) · Leo Kühberger (Hg.) · Samuel Stuhlpfarrer (Hg.)
Alle Verhältnisse umzuwerfen …
Gespräche und Interventionen zu Krise, globaler Bewegung und linker Geschichte
Mandelbaum
2016 · 272 Seiten · 19,90 Euro
ISBN:
978385476-653-7

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