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Kritik

Dichter von Welt aus Polen Cyprian Norwid

Hamburg

Norwid, Selbstportrait

Was den Engländern Byron (1788-1824), den Deutschen Heine (1797-1856), den Russen Puschkin (1799-1837) und den Alt-Österreichern Lenau (1802-1850) war – Dichterheld der Nation, Genie des Biedermeier, das nicht alt werden noch in seinem Bett sterben durfte – diese Stelle besetzt für die Polen Cyprian Norwid (1821-1883).
Doch darüber hinaus war der Spätromantiker Frühmoderner von Weltformat.
2013 brachte der Leipziger Literaturverlag einen Meilenstein von Norwids samt Kommentar 11 Bände umfassenden (grafischen und) literarischen Werks heraus, neben verschiedenen Gedichten das Poem „Über die Freiheit des Wortes”, ein Lehrgedicht, über das sich die wenigen Rezensenten begeistert äußerten.

Die deutschen Versionen von Norwids Texten hat mit einiger Beflissenheit Peter Gehrisch hergestellt. Des Polnischen nicht mächtig, steht mir nicht zu, sie zu beurteilen. Ich meine jedoch, ein Dichter von Liedern und Sonetten wie Norwid verdient einen Nachdichter wie Norwid.

Immerhin: Endlich ist Norwid auch denen zugänglich, die kein Polnisch verstehen. Auch wer mit der modernen russischen Literatur zu tun hat, wird zwangsläufig auf ihn neugierig. Etwa ich habe ihn bei Ilya Kutik kennengelernt. Kutik stellt Zeilen aus Norwids „Gemeinplätze” seinem Gedicht „Der Gegenstand” voran und wendet sich in „Dreier Wüste” an ihn, wo er ihn mit dem Vornamen anspricht. Als ich diese Gedichte aus dem Russischen übersetzt habe, musste ich lange nach deutschen Norwid-Versionen suchen – um schließlich die von Hoelscher-Obermaier bzw. Jahre später Rolf Fieguths Bändchen „Vademecum” aufzustöbern.

Wer ist nun dieser – mit ganzem Namen – Cyprian Kamil (bzw. Konstanty) Norwid?

Norwid stammte aus dem niederem polnischen Adel, wuchs nach dem frühen Tod der Mutter bei seiner Urgroßmutter im ländlichen Masowien auf und kam erst zum Besuch des Gymnasiums mit seinem Bruder in die Hauptstadt Warschau. Hier, mit 19, veröffentlichte er zum ersten Mal ein Sonett. Wie für die polnische Gentry üblich, folgte eine Kavaliersreise durch Europa, wo er Venedig und Florenz besichtigte.

Norwid auf einer Daguerreotypie von 1883

Doch bald war das Reisen nicht nur Lust, sondern Notwendigkeit: Die so genannten polnischen Teilungen – zwischen den Imperien Österreich-Ungarn und Russland – zwangen den gebildeten polnischen Adel zu Quartiernahmen in den Hauptstädten Europas. Norwid lebte in Brüssel, eine Zeitlang in Rom, versuchte sich – wie 20 Jahre vor ihm Nikolaus Lenau – als Auswanderer in der Neuen Welt, kehrte New York jedoch bald wieder den Rücken und ging nach Paris zurück. Bei abnehmenden Mitteln, d.h. in zunehmender Verarmung, starb er in einem Armenspital an der Tuberkulose – ein Ende in der Pariser Fremde wie bei Heine.

Obschon als Zeichner wie Dichter nicht unbekannt und mit vielen berühmten Menschen befreundet, u.a. mit dem polnischen Romancier Adam Mickiewicz und dem Komponisten Chopin, wurde Cyprian Norwid erst nach dem Tod gebührende Anerkennung zuteil. In Polen hat man sein Werk – als Freiheitsdichtung weder im sozialistischen Arbeiter- und Bauernparadies noch im sogenannten Kongresspolen ihrer Entstehungszeit, unter den Raubvogelaugen der russischen Zaren, erwünscht – in aller Vollständigkeit erst in den 1970erjahren ediert. In der DDR war man bei Übersetzungen sehr vorsichtig, also gelangte der Dichter recht spät ins Deutsche, d.h. in unseren Gesichtskreis.

Seit 2012 der zweisprachige Band „Über die Freiheit des Wortes” vorliegt, ist Norwid auch hierzulande wahrnehmbar geworden, – „ein literarisches Ereignis”, wie Ulrich Schmid enthusiastisch in der „Neuen Zürcher Zeitung” begrüßte:

„Dass sie mit dem Postromantiker <...> einen ganz grossen Lyriker der Weltliteratur vorzuweisen haben, haben selbst die Polen lange nicht gewusst. <...> In den einzelnen Texten wird deutlich, wie Norwid als Spätgeborener den Untergang romantischer Sinndispositive poetisch reflektiert. Seine scharfe Kritik richtet sich gegen die wirtschaftliche Einschränkung der Kunst («Lyrik und Druck»), gegen die meinungsbildenden Institutionen des Literaturbetriebs («Der Kritiker-Zensor») und gegen die politische Unterdrückung durch die russische Besatzungsmacht («Der Flügel Chopins»).

Der Titel des Bandes, der auf dem Deckel den Untertitel „Poem", im Buchinneren den korrekten „Gedichte und ein Poem” trägt, ist der von Norwids in Langgedichtform abgefasster, einstündiger Rede „Über die Freiheit des Wortes". Die sechshebigen Verspaare, in die Norwid das Lehrgedicht fasst, sind in der deutschen Version nicht erkennbar, der Übersetzer hat sich für einen verwirrenden Kompromiss aus Interlinearversion in hochtrabender Metrik entschieden.

Norwid hat diesen Vortrag 1869 vor einem Publikum polnischer Emigranten in Paris gehalten, im Rahmen einer Bildungsreihe, mit der die polnische Intelligenz sich – und ihre Sprache – im Exil wachzuhalten pflegte. (Was Elfriede Jelinek in der „Klavierspielerin” grotesk zeichnet – die polnische Community beim Zelebrieren eines Hauskonzerts – wurzelt in dieser Kultur.)

Im Verlagstext heißt es über die „Freiheit des Wortes”: „Im Gegensatz zur Redefreiheit (la liberté de dire) hebt <Norwid> die an den Schöpfungsgesetzen orientierte Selbstregulierung des Wortes hervor, das sich - in scheinbarer Kraftlosigkeit - über Korrumpierung des Geistes, Lüge und Verschwommenheiten hinweg - zum prägenden Bild der Wahrheit ausformen und einer Epoche die geistige Richtung vermitteln kann.” – Und geht in seinem Vortrag der Aufgabe der Sprache durch die historischen Epochen nach, wie sie als Informations­medium und Literaturinstrument verwendet worden ist, ohne dass die Worte sich hätten emanzipieren können.

Besser erklärt der Frankfurter Literaturvermittler Oleg Jurjew in seiner „Tagesspiegel”-Kolumne „Jurjews Klassiker” Norwids Rolle in Osteuropa: „<Es geht hier> um die Freiheit des Wortes selbst <...>, und nicht um die des Menschen, der das Wort benutzt.

Der Ausdruck kommt einem von der Diktion des PEN-Clubs her geläufig vor: die „Freiheit des Wortes” hält als Überschrift bei Veranstaltungen gegen die Zensur her, oft im Zusammenhang mit der Verfolgung von Presseleuten in Diktaturen. Anna Politkowas posthum herausgegebenes Buch heißt nach dieser Devise der Gedankenfreiheit – im Sinne des Menschenrechts auf die freie Äußerung von Gedanken. Doch wo bleibt die Freiheit für die Sprache an sich?

Wie Jurjew ausführt, meint eben Norwid mit der Freiheit des Wortes eine solche „Freiheit des Wortes vom Menschen, <...> die wunderbare Vorahnung einer neuen Poesie, die sich auf die Selbstständigkeit des poetischen Wortes gründet, auf die Idee, dass die Sprache so etwas wie ein eigenes Bewusstsein hat und die Aufgabe des Dichters darin besteht, die Selbstverwirklichung des Wortes zu gewährleisten.” – In dieser Funktion hat Norwid für die Dichtung gefordert, was Cézanne für die Malerei geleistet hat – sie aus der Abbildungsfunktion befreien. Sprache darf sich im Gedicht ausprobieren, unabhängig und nur im Dienst der Wahrheit an was auch immer herantasten und die gefundenen Worte zweckfrei begreiflich machen.

Jurjew hat Norwid in russischer Übersetzung kennengelernt, durch den exilierten Joseph Brodsky, der ihn gar als den „beste<n> Lyriker des 19. Jahrhunderts, besser als Baudelaire“ bezeichnete. Der spätere Nobelpreisträger schätzte – und übernahm – bei Norwid die Angewohnheit, das Absolute aus dem Zufälligen, Vergänglichen zu beziehen, wie die polnische Philologin Zofia Kapuszinska („Brodsky Through the Eyes of His Contemporaries”, ed. Valentina Polukhina) bemerkt hat.

Hier ein Beispiel für diese Eigenart Norwids – das Original ist sicherlich spritziger, im Kreuzreim:

<...> Oder noch besser: Ich kenne die heutige Art
Gegen die lausige Langeweile:
Die Menschen vergessen, nur bei Personen verweilen,
– Eine Krawatte haben – allerliebst zugeknöpft!...
(Marionetten, 1861)

Zurück zu Norwids Verständnis der „Freiheit des Wortes”: Hier gewinnt Brodsky – oder bekommt sie bestätigt – die Überzeugung, Sprache, die seines Erachtens höchste Existenzform, stünde über allen ihren Nutzern, ob es  nun Schriftsteller, Zensoren, Redner oder Richter. Selbst Dichter handelten nicht durch Sprache, sondern Sprache bediene sich ihrer. (Denselben zutiefst modernen, humanistischen Gedanken von einer absoluten Sprachhoheit führte auch Journalismuskritiker Karl Kraus im Mund.)

Ob der spätromantische Pole, wie Brodsky schwelgt, als Dichter gar Baudelaire, den Pariser Begründer der Moderne, überrage, sei dahingestellt. Oleg Jurjew erklärt Norwids Bedeutung für die Weltliteratur, indem er weit ausholt auf der weißen Landkarte der reichen und großzügig angereicherten Literaturen Osteuropas:

„Die erste Welle der Moderne verbreitete sich von der Seine aus. Die zweite Welle wogte um die Jahrhundertwende von den äußeren Rändern der ,zivilisierten Welt‘ her: Ägypten (Konstantinos Kavafis), Portugal (Fernando Pessoa), Russland (Alexander Block). Und die dritte nahte zwischen den Weltkriegen im Osten und Süden Europas – Serbien, Tschechien, Rumänien und eben Polen.

Doch entsprechend der Zwitternatur Polens hat es dort nicht eine, sondern zwei Modernen gegeben. Eine, die vom Osten, von der neuen russischen Literatur abstammt – in Gestalt von Boleslaw Lesmian, Julian Tuwim, Konstanty Ildefons Galczynski, Bruno Schulz. Und eine, die sich am Westen orientiert. Ihr bekanntester Vertreter ist Czeslaw Milosz. Das bedeutet nicht, dass die polnische „westliche Moderne“ nichts von der russischen Literatur und die „östliche“ nichts von der westlichen wissen wollte. Es geht vielmehr um die grundlegenden Muster der Wahrnehmung und des Ausdrucks. Doch an der Urquelle beider polnischen Modernen steht Norwid. Darin liegt seine Bedeutung für die ganze Kulturentwicklung des „östlicheren“ Europas.

Was nun das „westlichere” Europa betrifft: Erinnern etwa Norwid-Zeilen wie die folgenden von der Kommerzialisierung des Wortes nicht an Pasolini, der hundert Jahre später vor der Vereinnahmung der Kunst in der industrialisierten Unterhaltung und Meinungsmacherei gewarnt hat?:

„Nicht Musen sind mehr berufen, sondern Mäzene...
Weiter setzt die Zensur ihren Stempel.,
und heute besetzt diese Stelle ein Autorporträt.”

Und: Ist womöglich schon Realität geworden, was der Bildungspessimist Norwid  – original in Versen, hier die ein wenig vertrackte Übersetzung – für die Errungenschaften der Aufklärung befürchtet: dass populistische Phrasendrescher sie als Worthülsen verkaufen würden?:

„Das Ziel der Popularisierung - ein Höchstes an Klarheit,
sodaß es im Schatten verschwindet, verlierend das ganze Vermögen,
und es verschwindet, wo das bereitete Licht fehlt"
(Zitate beide aus dem XI. Gesang)

 

Cyprian Kamil Norwid
Über die Freiheit des Wortes
Aus dem Polnischen von Peter Gehrisch
Leipziger Literaturverlag
2011 · 24,95 Euro
ISBN:
978-3-86660-126-3

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