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Heimat verhandeln V&R böhlau
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Kritik

… und keine einzige Antwort auf Mensch, Natur und Gott

Hamburg

„Call me Ishmael. Some years ago – never mind how long precisely – having little or no money in my purse, and nothing particular to interest me on shore, I thought I would sail about a little and see the watery part of the world.”

Eine Interessenlosigkeit, nichts, was bände, Freiheit von Zeitpunkten und genauer Lokalisierung, jedenfalls einer der Orte, zieht es Ishmael hinaus. Das Meer, das den Rhythmus des Textes bestimmt, ist wie die Musik, die einer Ordnung gehorchend doch nur die momentane Fixierung der Anarchie ist. Die Wellen – „Macht des Aufschreibesystems”..? Oder das, was darin die Macht selbst auflöst? Wenn Signifikant und Signifikat ineinander rutschen..?

Und aus alledem entsteht ein vitales „Gegen”, eine Lebendigkeit gegen Willküren und Ideologien, das unausgesetzt Offene, das Moby Dick umkreist: „Archipel”, „Konglomerat”:

„Für mich ist Moby Dick ein Archipel. Nie geht es Melville um Totalität, sondern um einen offenen Raum, da es für ihn keine absolute Klarheit und keine einzige Antwort auf Mensch, Natur und Gott gibt. Diese Mehrdeutigkeiten regen zum Nachdenken an. Moby Dick ist ein Konglomerat aus Stilen, Kalauern, Naturgeschichte, Philosophie, überschäumendem Sprachreichtum”…

Darin: „Jedes Kapitel, jeder Satz ein Universum für sich.” Und dem folgt das, was man, klänge es nicht abgedroschen, Gesamtkunstwerk hieße … oder ging ihm schon voraus, denn dieses Buch bezieht sich auf Moby Dick sowie den Prozeß der Nicht-Aneignung und des Sprießenlassens, nämlich Neuwirths The Outcast, basierend auf Herman Melville und 2012 am Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt, sowie indirekt Ensemblewerk Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie, das sich auch schon auf Melville bezog. 1

Und der Prozeß dieses Geschehenlassens, das Arbeit auch ist, wie der Arbeit, die gleichwohl getan wurde, während etwas geschah, dokumentiert der Band, der poetische Nachvollzug eines poetischen Nachvollziehens. Im Buch und nochmals auf DVD, auf der Elfriede Jelinek und andere Texte einsprechen, Neuwirths Musik erklingt und sich Impressionen der Schreibtischarbeit und zum Beispiel vom Wasser sich zu etwas mischen… Doch schon vor Einlegen der DVD ist das Buch ja ein solches Konglomerat, Texte (Kolumnen von Olga Neuwirth, ein Beitrag von Elfriede Jelinek, Begleittexte Katherine Jánszky Michaelsens und ein Kommentar des Musikwissenschaftlers Stefan Drees), Bilder, Collagen und Dokumente, typographisch wunderbar gestaltet … – eine Freude.

Und zwar auch darüber, daß der Verlag – Müry Salzmann – solchen Aufwand betrieb, mit Geschick, Einfühlung und Liebe. Auch solchen Verlagen ist es zu verdanken, taucht man ins „musikalische Seelen-Gewässer”… Alles in allem: lesens- und bemerkenswert!

Olga Neuwirth · Stefan Drees · Katherine Jánszky Michaelsens · Elfriede Jelinek
O Melville!
Enthält die DVD "Das Fallen. Die Falle" (Musik und Film von Olga Neuwirth nach einem Text von Elfriede Jelinek, Sprecherinnen: Elfriede Jelinek und Sophie Rois)
Müry Salzmann
2016 · 160 Seiten deutsch/englisch · 35,00 Euro
ISBN:
978-3-99014-084-0

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