Aus dem Leben eines Sultans
„Gegen das eigene Volk zu kämpfen ist nicht Heldentum, sondern Feigheit.“ Diesen Satz sagte Recep Tayyip Erdogan, damals noch türkischer Ministerpräsident, an den syrischen Diktator Assad gerichtet. Assad, einst ein guter Freund Erdogans, war gerade zum Problem geworden, also stellte er sich gegen ihn. Genauso wie später auch gegen Abdullah Gül und alle anderen, die ihm in die Quere kamen. Wie ernst Erdogan seinen eigenen Satz nimmt, wurde spätestens im Sommer 2013 ersichtlich, als er die Gezi-Proteste brutal niederschlagen ließ. Acht Menschen starben.
Heute ist Erdogan auf dem Weg zum Alleinherrscher. All die positiven Errungenschaften und Reformen, die er bis ca. 2010 eingeleitet hatte, hat er über Bord geworfen. Seine Gegner und Kritiker wirft er zu Zehntausenden ins Gefängnis. Die Türkei, die als Musterbeispiel für eine islamische Demokratie betrachtet wurde, ist heute wieder eine Diktatur, ein Land, das den unberechenbaren Launen eines Mannes ausgesetzt ist.
Die Journalistin Cigdem Akyol (u.a. taz, NZZ, Zeit, FAZ) hat nun die erste auf Deutsch erscheinende Erdogan-Biografie vorgelegt – und verweist darauf, dass es in der Türkei zwar bereits ein paar Bücher mit ähnlichem Ansatz gibt, dass diese in der Regel aber über Lobhudelei und Verklärung kaum hinauskommen. Daraus ergibt sich aber auch für Akyol ein Problem – denn strenggenommen ist das Buch mehr ein politisches Portrait als ein biographisches Werk. Die Quellenlage zu Erdogans Kindheit im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa und zu seiner Jugend sind dürftig. Daher bleibt ihr auch kaum mehr übrig als Erdogans eigene und die Narrative seines engeren Kreises zu übernehmen und auf die – meist offensichtliche – Verklärung und Legendenbildung zu verweisen sowie den Wahrheitsgehalt anzuzweifeln.
Über das Privatleben des türkischen Staatspräsidenten ist bis heute kaum mehr als das bekannt, was er selbst in der Öffentlichkeit inszeniert: Die immer zusammenhaltende, streng konservative Familie. Daher konzentriert sich Akyol auf den Werdegang des Politikers: Früh geprägt von der religiösen Imam-Hatip-Schule über das ideologische Umfeld von Milli Görüs und Muslimbruderschaft im Gefolge des politischen Ziehvaters Erbakan über seine Profilbildung als Istanbuler Bürgermeister; die Verhaftung Ende der Neunziger; die Gründung der AKP; ein fulminanter Wahlerfolg nach dem anderen; Annäherung an die EU und Umsetzung zahlreicher demokratischer Reformen bis hin zur Entmachtung des Militärs und schließlich dem lange geplanten Schwenk zur totalitären Attitüde, als seine Machtbasis dafür gefestigt genug war.
Wobei das im April 2016 erschienene Buch zwar deutlich den Weg und die Hintergründe der Radikalisierung des Machtmenschen Erdogan analysiert – aber den radikalen Durchmarsch, den er seit dem Putschversuch vom 15. Juli hinlegt auch nicht voraussieht. Es ist ein Buch für jene, die kompakt und verständlich Einblick in die jüngste türkische Geschichte suchen und verstehen wollen, wie Recep Tayyip Erdogan tickt, was ihn antreibt und wie seine Politik zu interpretieren ist. Ein paar Aspekte wie beispielsweise die Beziehung zur Gülen-Bewegung oder das Verhältnis zur ultranationalistischen MHP kommen insgesamt ein wenig zu kurz.
Eine kleine Ironie zum Schluss: Bei Herder, wo die Erdogan-Biografie erscheint, erscheinen auch Bücher von Erdogans Erzfeind Fethullah Gülen.
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