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Kritik

Wer weiß, was als nächstes kommt

Hamburg

1979, in einem Vorort von Chicago: Der dreizehnjährige Oliver Dalrymple ist ein Intelligenzbolzen und gleichermaßen das ewige Mobbingopfer seiner geistig weniger anspruchsvollen Mitschüler. Wegen seiner gespenstisch blassen Hautfarbe wird er von allen nur "Boo" genannt. Eines Tages stirbt er ganz unvermutet vor seinem Schulspind beim Studieren des Periodensystems der Elemente. Er findet sich alsbald in einer kuriosen Art von Zwischenwelt wieder: in einer Stadt nur für dreizehnjährige amerikanische Jungen und Mädchen, die abgeschottet von der Außenwelt zu existieren scheint und aus der es offenbar kein Entrinnen gibt. Das Nachleben erweist sich aber zunächst als einigermaßen gemütlich: für Essen und Kleidung wird wie durch Zauberhand gesorgt von einer geheimnisvollen Entität namens Zig ("weil das hip und groovy klingt", wie Boo vermerkt), der für die Gemeinschaft der jugendlichen Städter so etwas wie ein Hippie-Gott ist.

Kaum hat Oliver "Boo" Dalrymple sich ein wenig eingelebt und bemerkt, dass er gegenüber seinem Erdenleben zwar etwas von seiner Hyperintelligenz eingebüßt, dafür aber an sozialer Akzeptanz gewonnen zu haben scheint, wird sein ehemaliger Schulkamerad Johnny ebenfalls in den Himmel für Dreizehnjährige abberufen. Johnny eröffnet ihm, dass sie beide am gleichen Tag erschossen worden seien, nur habe Johnny im Gegensatz zu Boo noch wochenlang im Koma gelegen, bevor er verstorben sei. Johnny wird immer wieder von Träumen geplagt, in welchen er seinen Mörder zu sehen glaubt, ebenfalls einen dreizehnjährigen Jungen, der sich nach dem Schulmassaker selbst getötet habe. Nun befürchten die beiden, er könne womöglich auch in ihrer Zwischenwelt gelandet sein und beginnen, den "Gunboy" zu suchen. Damit beginnt eine spannungsreiche Handlung, die neben einer gehörigen Portion frotzelndem Humor auch die vielfältige Problematik menschlichen Zusammenlebens in die denkwürdige Teenie-Gesellschaft des Romans transponiert. Die Städter haben so etwas wie eine gewählte Selbstverwaltung, die "Helferräte" der einzelnen Stadtteile, die auch eine rudimentäre Art von Rechtsprechung übernehmen. Wer in die Stadt kommt, bleibt dort gemäß dem unergründlichen Ratschluss von Zig fünfzig Jahre, ohne zu altern, um dann urplötzlich wieder zu verschwinden und - vielleicht -  in andere metaphysische Gefilde abberufen zu werden; dennoch haben die "Oldies" natürlich einen größeren Erfahrungsschatz und mitunter auch ein gesetzteres Auftreten als die Neuankömmlinge. Der Ton des Buches ist daher insgesamt nicht ganz so jugendlich-schnodderig, wie man es erwarten könnte, auch weil Boo als Erzählinstanz den Roman als persönlich gefärbten Tatsachenbericht an seine Eltern abfasst, in der vagen Hoffnung, ihn über eine Art von "Portal", von dessen Existenz immer wieder gemunkelt wird, in das lebendige Amerika des ausgehenden 20. Jahrhunderts übersenden zu können. Kraftausdrücke werden also konsequent mit einem A*schloch-Sternchen versehen, um die "lieben Eltern", an die seine Zeilen stets gerichtet sind, nicht allzu sehr zu verschrecken.

Die Kapiteleinteilung wird vom kanadischen Erfolgsautor Neil Smith anhand eben jenes Periodensystems der Elemente vorgenommen, die Boo, der selbst gerne Wissenschaftler geworden wäre, als letzte irdische Handlung auswendig aufzusagen versuchte. Sie ist also in 106 Abschnitte gegliedert, analog zu der bis zum Jahr 1979 bereits entdeckten Zahl von chemischen Elementen. Ein tieferer Bezug zur Handlung oder zum Aufbau scheint damit allerdings nicht verbunden zu sein, zumal unter manchen Elementen gar keines oder nur wenige Worte des Inhalts zu finden sind. Daneben weist "Das Leben nach Boo" einen mannigfaltigen Katalog an kulturellen Bezügen aus Film, Fernsehen, Musik und vor allem natürlich Literatur auf, und die Bezeichnung "Katalog" ist wörtlich zu verstehen, denn am Ende des Buches gibt es ein ausführliches Glossar zu Namen und Werken, die der Leserschaft vor allem im deutschsprachigen Raum nicht unbedingt geläufig sein werden. All diese Verweise und scheinbaren Verknüpfungen bleiben allerdings bloßes Zitat, bestenfalls assoziative Anstöße, ohne welche die Handlung verlustfrei ausgekommen wäre. So verwandelt sich die auf den ersten Blick postmodern anmutende Signifikantenkette unter dem Strich eher in neobarocke Verzierungswut.

Dennoch ist "Das Leben nach Boo" ein erfrischender und bewusst naiv nach gleichermaßen alltäglichen wie letzten Dingen fragender Roman, bei dem man nie sicher sein kann, dass alles so ist, wie es acht Seiten oder zwei Elemente vorher noch schien. Und seine Leserschaft lässt Neil Smith über die metaphysische Beschaffenheit der von ihm erdachten Zwischenwelt letztlich genauso im Unklaren wie der Verlag über seine Marketingmethoden, denn das Buch wird auf dem deutschsprachigen Markt alternativ in elf verschiedenen Einbandfarben ausgeliefert - warum bitte nicht in dreizehn? Oder in einhundertsechs? Aber vielleicht sind das auch alles die vollkommen falschen Fragen. Oder sie klären sich irgendwann von selbst. "'Es werden eben ständig neue Entdeckungen gemacht'", wie es eine der Nebenfiguren des Romans so beiläufig wie paradigmatisch äußert: "'Wer weiß, was als Nächstes kommt?'"

Neil Smith
Das Leben nach Boo
Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek
Schöffling & Co
2017 · 416 Seiten · 24,00 Euro
ISBN:
978-3-89561-496-5

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