Das Ministerium des äußersten Glücks
Zwei Vorbemerkungen: Ich habe Vorbehalte gegen Hypes und Superlative. Ein derartiger Rummel um den zweiten Roman der indischen Schriftstellerin Arundhati Roy noch vor dessen Erscheinen macht(e) mich skeptisch, lässt an konzertiertes Marketing denken, an emsige PR-Abteilungen einer weltweiten Verkaufsindustrie, die hohe Absatzzahlen eines Produkts und maximalen Profit anstrebt. Dies ist per se nicht verwerflich: Dass eine Ware keine Verluste machen soll, ist Maxime jedes ordentlichen Kaufmanns. So ist strategisch nachvollziehbar und neoliberal konsequent, ein im großen Teil der Welt potentiell verkäufliches Produkt zeitgleich überall KonsumentInnen anzubieten. Allerdings: Nicht nur mein Bauchgefühl weigert sich, ein Buch als Produkt wie jedes anzusehen (über diesen persönlichen Aspekt mögen sich emotional anders Veranlagte gern hinwegfühlen). Wichtiger jedoch scheint mir, dass Arundhati Roy, die als Globalisierungskritikerin bekannt ist, hier eindeutig Nutznießerin einer globalen Vermarktungsstrategie ist, die ihrem Interesse dient, dass das, was sie der Welt zu sagen hat, auch von vielen gelesen wird.
Marktstrategisch günstig scheinen zudem heute Titel zu sein, die keine Steigerung mehr zulassen, hier eben das „äußerste“ Glück. Ein Superlativ als eyecatcher, der zum Kauf animieren soll - mich stößt er ab und ich halte ihn für verzichtbar. Was das überhaupt sein soll, ein „äußerstes“ Glück, habe ich im Buch nicht erfahren, wohl aber, was sich im Lauf der Handlung zum „Ministerium des Glücks“ entwickelt: Eine Enklave in einem muslimischen Friedhof mitten in Delhi, in der sich Ausgestoßene ihre Heimat schaffen, einen Zufluchtsort zwischen Gräbern, der zum Hort der Akzeptanz, des menschlichen Miteinanders und der Zugehörigkeit wird.
Arundhati Roy hat 1997 mit ihrem ersten Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ Furore gemacht, für den sie mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet wurde. 20 Jahre arbeitete sie an ihrem zweiten Roman. In dieser Zeit widmete sie sich mit großem Einsatz ihrem politischen und humanitären Engagement. Als Aktivistin nahm sie u.a. Stellung zu sozialen Ungerechtigkeiten und dem Kastensystem Indiens, zum Kaschmirkonflikt und zur Verfolgung der Muslime durch nationalistische Hindus. Sie publizierte dazu zahlreiche politische Essays, die auch in deutscher Sprache zu lesen sind, etwa 2002 das Buch „Die Politik der Macht“ und 2010 die Essaysammlung „Aus der Werkstatt der Demokratie“, die Thomas Hummitzsch damals für Fixpoetry rezensierte.
Mit „Das Ministerium des äußersten Glücks“ legt sie nun wieder erzählende Literatur vor. 550 Seiten hat dieses prallüppige, von Anette Grube aus dem Englischen ins Deutsche übersetzte Werk, das mehrere Romane in einem ist, rund 60 Jahre indische Geschichte umspannt und dabei an allen Ecken und Enden ausufert, derart viel ist zwischen die beiden Buchdeckel gepackt. Oft imponiert der Text als stark verdichtetes Konzentrat, das packt, fasziniert, beim Lesen auch überfordert, nervt und manchmal langweilt. Roy widmet sich darin voll Empathie den Abweichenden, Unkonventionellen und Außenseitern der indischen Gesellschaft. Anhand einzelner Schicksale und ihrer Verflechtungen beleuchtet die 1959 geborene Autorin die politischen, religiösen und menschlichen Verhältnisse, Geschehnisse und Zurichtungen in ihrer Heimat. Das Buch ist gespickt mit Zitaten, voll aphoristischer Zuspitzungen und erfreut immer wieder durch die Poesie der Sprache.
Oberflächlich Querlesende können das Lesen dieser Rezension nun beenden, weil hiermit das Wichtigste gesagt ist. Hinzugefügt muss allerdings werden, dass „Das Mysterium des äußersten Glücks“ für jene bestimmt nicht das richtige Buch ist, denn es verweigert sich jedem Querlesen, weil man stets Gefahr läuft, sich im Gewirr der Ereignisse, der wechselnden Personen und Perspektiven zu verlieren. Mehr noch: Eine zweite, vertiefende Lektüre scheint durchaus empfehlenswert, denn schnell können wichtige Details in dieser überbordenden Fülle überlesen werden.
Zwei Handlungsstränge durchziehen „Das Ministerium des äußersten Glücks“, die sich am Ende verflechten. Der Roman beginnt in Alt-Delhi mit der lang ersehnten Geburt eines Knaben. Aftab entpuppt sich bald als Mensch mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen. Als Jugendlicher wechselt er seinen Namen, nennt sich fortan Anjum und zieht in eine Hijra-Gemeinschaft. Hijras sind in Indien als drittes Geschlecht anerkannt, ohne dass ihnen gleiche Rechte zuerkannt werden. So sind sie von vielen Berufen ausgeschlossen und leben als Ausgestoßene, haben allerdings eine geschützte Sonderstellung, denn Hijras etwas anzutun bringe Unglück. Anjum ist als Hijra und Muslimin in ihrem Land zudem in einer zweifachen Außenseiterposition. Sie zieht schließlich auf einen Friedhof und erschafft nach und nach an diesem Ort der Toten für sich und andere ein kleines, lebensfrohes Refugium. Auch ihr drängender Wunsch nach Mutterschaft erfüllt sich, als sie ein Findelkind bei sich aufnimmt.
Im zweiten Handlungsstrang stehen vier Freunde aus Studientagen und der Kaschmirkonflikt im Mittelpunkt. Die vier könnten unterschiedlicher nicht sein und bleiben dennoch ihr Romanleben lang in einer losen Verbindung, deren wichtigster Grundpfeiler das Wissen um Verlässlichkeit und Loyalität bleibt: Der Journalist Naga, der Kashmiri Musa und Diplab Gupta, ein Vizechef des indischen Geheimdiensts, der uns als einziger im Roman in der Ich-Perspektive entgegentritt. Alle drei lieben dieselbe Frau, die Architektin Tilottama, Tilo genannt, die nur einem, dem Milizienführer Musa, in tiefer Liebe verbunden ist. Die beiden eint eine Liebe, die selten, nur im Geheimen und in steter Gefahr gelebt werden kann, die trotz aller Widerstände beständig bleibt und Jahrzehnte, lange Trennungszeiten und quälende Ungewissheiten überdauert. Musa wird im Kampf um Kaschmir sterben, Tilo ein Findelkind bei sich aufnehmen und schließlich gemeinsam mit diesem auf Anjums Friedhof Zuflucht finden.
Die beiden Hauptstränge des Romans werden von Roy nicht chronologisch erzählt, sondern sie entwickelt das Geschehen in wechselnden Zeit- und Handlungsebenen und in unzähligen kleinen Geschichten, die sie wie bunte Fäden in und um die beiden Hauptstränge legt. Zudem sind viele andere Textsorten zu finden, etwa Briefe, Gedichte, Liedtexte, Gebete, aber auch Notizen, Zeugenaussagen, (erzwungene) Geständnisse und makabre Quizfragen. Zusätzlich flechtet sie in diese Textur eine Fülle politischer Informationen ein. Hier schießt Roy vor allem im ersten Teil des Romans gelegentlich über das Ziel, wenn sie als Aktivistin agitiert, der die nötige Distanz fehlt, und dem Fließtext ihr Wissen als in Klammer gesetzte Kommentare hinzufügt, die Erzähltes sogleich relativieren und dadurch unnötig überfrachten. Stärker ist sie, wenn ihr Wissen wie nebenbei einfließt. So lässt sie uns z.B. in einem Nebensatz erfahren, dass Indien 22 offizielle und Hunderte inoffizielle Sprachen kennt. Und man begreift auf einmal, wie schwierig das miteinander Sprechen in einem Land ohne gemeinsame Sprache, wie problematisch die einstige Kolonialsprache Englisch oder das fundamentalistische Streben ist, Hindi als Nationalsprache einzuführen.
Die Erzählerin Roy weiß packend zu erzählen und in ihrem Buch ein komplexes Bild des heutigen Indiens zu zeigen. Sie lenkt unseren Blick auf den blutigen Konflikt um die Provinz Kaschmir, jenem nördlichsten Bundesstaat, der seit vielen Jahren um seine Unabhängigkeit kämpft und dessen Interessen zwischen jenen Indiens, Pakistans und Chinas zerrieben wird. Roy thematisiert das nach wie vor existente Kastensystem und die großen sozialen Gegensätze in einem Land mit bitterster Armut und eindrücklichem Wirtschaftswachstum. Vor allem aber rückt sie immer wieder den Hindu-Fundamentalismus in den Mittelpunkt, der sich u.a. in pogromartigen Übergriffen auf Minderheiten Indiens, insbesondere die muslimische, entlädt. Etwa jenen „Genozid in Gujarat“ im Frühjahr 2002, den die Autorin bereits in mehreren Essays thematisierte und der hier wie nebenbei in einer kleinen Geschichte auftaucht, die meiner Meinung nach ruhig etwas länger hätte sein können: Anjum wird als Teil einer muslimischen Pilgergruppe von hinduistischem Mob angegriffen und überlebt nur deshalb, weil sie als Hijra erkannt wird.
„Das Ministerium des Glücks“ erzählt eindrücklich von Anmaßung und Ungerechtigkeit, blutigen Grausamkeiten und Tod. Trotzdem ist es kein traurigdüsteres Stück Literatur, sondern eines, das bunt schillert und in dem immer wieder Humor aufblitzt, manchmal auch zarte Ironie oder Sarkasmus. Und es ist ein Buch, das in all dem Chaos, dem die ProtagonistInnen ausgesetzt sind, das unausgesetzte Ringen um die Normalität eines Alltags zeigt, um Liebe, Menschlichkeit und Würde. Roy vermittelt als Erzählerin glaubhaft unterschiedlichste Stimmen und Stimmungen. Ihr zweiter Roman wurzelt tief im indischen Kontinent, webt einen weiten Bogen über die Geschichte der letzten 60 Jahre bis ins Hier und Heute und zieht uns beim Lesen dabei tief in das Geschehen hinein. Eine Lektüre, die fordert, überfordert und berührt.
Fixpoetry 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Fixpoetry.com und der Urheber
Dieser Artikel ist ausschließlich für den privaten Gebrauch bestimmt. Sie dürfen den Artikel jedoch gerne verlinken. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung der Redaktion wieder.
Neuen Kommentar schreiben