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Kritik

Verwundbare Augen geöffnet

"... die verwundbaren Augen/ nicht öffnen! Nicht öffnen!" heißt es  in einem der Gedichte  - ein Vorsatz, so verständlich wie vergeblich. Denn es ist natürlich nicht Aufgabe der Dichterin, die Augen geschlossen zu halten, sondern auch da noch zu sehen, wo man lieber wegsehen möchte. Etwa an Rändern der menschlichen Existenz, wovon Gedichttitel zeugen wie "Asyl", "Geschlossene Abteilung" "Beobachtung auf Intensivstation". Auch im Gestrüpp menschlicher Beziehungen und angesichts mancher Absurditäten des Alltags gilt es, schmerzlich genau hinzuschauen. Die Frage ist, was dann mit der Wahrnehmung geschieht.

In ihrem zweiten Gedichtband "Kopfüber", erschienen in der Lyrikreihe der Silver Horse Edition, erweist Gisela Noy sich als Dichterin, die mit ihren Erfahrungen bewusst und genau umzugehen weiß. "Ich muss noch wem erzählen" heißt es in "Reisebericht". Aber ein Gedicht erzählt nicht, es argumentiert auch nicht, es zeigt. Und so evozieren die Texte in kunstvoller Verknappung die unterschiedlichsten Orte und Szenen. Hier wird nichts ausgepinselt, sondern nach Art der Zeichnung mit gekonnt hingeworfenen (in Wirklichkeit sorgfältig gesetzten) Strichen umrissen. Dazu genügt manchmal ein Partizip, ein Infinitiv, ein halber Satz. Dennoch entsteht kein Splitter-Mosaik, kein Wort-Gestöber, sondern es gibt ein sprechendes Ich, das eine Aussage machen will und sich zuweilen auch an ein Du wendet. Die Autorin gehört zur Fraktion (oder Generation?) derjenigen, für die Poesie (noch) mit Rede zu tun hat, also mit der prinzipiellen Hoffnung, verstanden zu werden, auch wenn manches rätselhaft bleibt.

Welche Grundlinien werden erkennbar beim Lesen eines ganzen Gedichtbands? Die schmalen, aber solide gestalteten Lyrikausgaben der Silver Horse Edition überfordern die Auffassungskraft des Lesers nicht. Sie enthalten eine vernünftig begrenzte Textmenge und bieten doch eine orientierende Rundwanderung durch das thematische und sprachliche Feld eines Autors.

Bei aller Vielfalt der Anlageformen und Sprechsituationen sind doch motivische Zusammenhänge zu verfolgen. Es sind vor allem zwei Ambivalenzen, die die Autorin umtreiben und die auf unterirdische Art auch wieder miteinander verflochten scheinen.
Da ist einmal das Motiv des Wohnens: ist dem Menschen die umgrenzte Behausung oder die frei schweifende Ungebundenheit gemäßer? Darauf  gibt es keine Antwort, sondern nur neue ambivalente Aufspaltungen. Auf der einen Seite steht die extreme Bannung an einen Ort, die geschlossene  Abteilung, wo ein Mensch zugleich ausgegrenzt und eingesperrt ist:

... drei Sätze unserer
Dennochsinfonie
dir aufgespielt
zu Füßen
zu deinen
angeschnallten Füßen...

Aber auch der Umgang mit sich selbst im eigenen Wohnbereich signalisiert weder Freiheit noch Geborgenheit, sondern einsamen Stillstand.  "Vor Ort I" beginnt:

Gegen die Regeln
und allen Anstand
im Bett tagelang
hinter geschlossenen Lidern
mit mir unter
einer Decke stecken

In "Berberlied" artikuliert sich die stolze Zurückweisung bürgerlich-lauwarmer Wohnbehaglichkeit. Aufhorchen lässt allerdings, dass gerade ein Gedicht, das vom Aufenthalt "bei den Grillen, und unter dem/umtriebigen Mond", von Wind und zielloser Reise spricht, den Titel "Wohnen" trägt. Hier meldet sich am Rande die Frage: Will der Mensch in seinem ungezügelten Freiheitsdrang ("Ich komme aus den nächtigen Wäldern/und treibe auf den Wellen des Tags") nicht letztlich doch, und sei es auf der Parkbank, wohnen? Das Gedicht "Draußen IV" thematisiert die zweifelhafte Alternative von Draußen und Drinnen:

Draußen die biegsame
Wand aus Wind, himmelan
flackert die Pappel

drinnen die zähe
Verwesung des Wunschs
erschöpfte Nichtsniederkünfte (...)

Das entgegengesetzte Pendant zur geschlosssenen Abteilung findet sich im Bild des Zigeunerwagens - Inbegriff der Nichtsesshaftigkeit. Und hier kommt auch die zweite thematische Linie in den Blick: die Ambivalenz der Liebesbeziehung. In den Gedichten von Gisela Noy gibt es allerdings kein Beziehungsgeschwätz. Vielmehr werden Nähe und Verletzung (es fällt der Ausdruck "Nähewunde"), Zuwendung und Abstoßung, Misslingen, Verfehlen und Erinnern in wechselnden Bildern umkreist und so in ihrer unauflösbaren Verschränkung nur angedeutet. Furios ist die Inszenierung des Paar-Auftritts als blutiger öffentlicher Tango in "Pas de deux II".

Die Autorin hat neben der Lyrik bereits zwei Prosabände vorgelegt, bewegt sich also kompetent auf beiden Schienen. Eine interessante Frage ist: Wann fällt angesichts eines Motivs die Entscheidung Gedicht oder Prosa? In der Regel wird sie sofort und mit instinktiver Sicherheit erfolgen. Daran besteht auch in diesem Band kein Zweifel. Lediglich bei zwei etwas längeren Gedichten ("Letzte Worte", "Der über mir") scheint trotz aller Knappheit die Grenze zur Prosa berührt. Jedenfalls ist es vorstellbar, dass hier auch eindrucksvolle Szenen in Erzählungen hätten entstehen können.
Glücklich gewählt ist der Titel "Kopfüber" nach dem gleichnamigen Gedicht, denn gerade hier werden ausnahmsweise die problematischen Alternativen von Wohnen und Schweifen schwerelos zusammengeführt:

Uns ein Sonnenhaus bauen
mit Schattenmulden, Nistplatz
für die helle Verheißung des Tags.

Die Nacht befahren und ihr Geheimnis
die blaue Partitur
auf einem Floß aus Honigwaben

kopfüber abtauchen in den Himmel
fürchte nichts
das Glück will uns kühn

Nach der Lektüre bleiben einige unvergessliche Prägungen im Gedächtnis ("schwarze Sonne im Kopf", "Herzenszuhälter", "Nichtwort", "Samtfeld") sowie die Überzeugung, einem künstlerischen Subjekt beim Ringen mit seinen Erfahrungen zugesehen zu haben und eine Weile  in seiner Sprachwelt zu Gast gewesen zu sein.

Ein gefundenes Zitat des Lyrikers Heinrich Ost möge den Gewinn bezeichnen, den die Literatur und speziell die Lyrik nach beiden Seiten hin, der Verfasser- und der Leserseite, darstellt: "Wahrnehmen ist wichtiger als glücklich sein."

Gisela Noy
Kopfüber
Silver Horse Edition
2010 · 40 Seiten · 6,80 Euro
ISBN:
978-3-937037356

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