Eine Frage der Ansätze & Perspektiven
Der Ort: Berlin. Die Figuren: Twenty- und Thirtysomethings, die in offenen Beziehungen leben, Bi und Queer sind und einen Faible für Kunst, Drogen, Festivals haben.
Schon diese kurze, grobe Zusammenfassung dessen, was sich auf den ersten dreißig Seiten zu entfalten beginnt, zeigt, dass es sehr leicht wäre, dieses Buch in eine Schublade zu packen und dort verschwinden zu lassen. Die Klischeekeule wird ja gern und früh gezogen (und ist beinahe selbst schon ein Klischee).
Nun ist aber nicht die Ausgangslage, das Setting entscheidend, sondern was die jeweiligen Autor*innen daraus machen. Noch der typischste Charakter hat das Zeug zu einer tollen Romanfigur, mit der man sich identifizieren kann oder an deren Schicksal man Anteil nimmt, deren Geschichte einen fesselt und bewegt. Es kommt darauf an, ob und inwieweit man als Leser*in Einblick erhält in die Welt der Figuren, ob sie sich als konflikt- und gefühlsbelebte, von Vorstellungen durchwebte Individuen erweisen und dementsprechend mit der Zeit einen ganz eigenen Reiz ausüben, Tiefe versprechen.
Ich muss allerdings direkt zugeben, dass es mir im Fall von Marianne Jungmaiers Roman „Sonnenkönige“ schwergefallen ist, diese Tiefe, dieses Belebte in einigen ihrer Figuren zu finden. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ich, obwohl ich bemüht war einen vorurteilsfreien Ansatz zu pflegen, streckenweise genervt war von dem Berlin, Festival und Drogen-Setting.
Sehr unentschlossen war ich auch von Anfang an, was ich von der Diskrepanz zwischen den reichlich vorhandenen sexuellen Themen und Szenen und den eher harmlosen sprachlichen Mitteln bei der Beschreibung dieser Themen und Szenen halten sollte. (Womit ich nicht unbedingt meine, dass es mehr explizite Schilderungen gebraucht hätte, sondern lediglich, dass die sexuellen Themen und Aktionen teilweise wie Staffage, wie Requisiten wirken und nicht wie etwas, das sprachlich erschlossen wird. Es wirkt leider so, als sollten diese Sachen dem Ganzen nur einen Touch geben und es ginge nicht wirklich um die Erfahrungen, die damit verbunden sind.)
Im Kern ist Sonnenkönige eine Geschichte vom Ende einer Beziehung, von einer Phase des Wandels (mit allen Schmerzen und Freuden) und dem Aufbruch zu neuen Ufern. Erzählt wird aus der Ich-Perspektive. Aiden, der Protagonist, lebt in einer WG mit seiner besten Freundin Sam, er ist schon eine Weile mit seiner Freundin Hannah liiert und zusammen mit Sams fester Freundin Cherry bilden die vier ein Gespann, das auf dem Sofa Filme guckt, auf Partys, in den Sadomaso-Club oder auf Festivals geht oder sonst gemeinsam die Freizeit totschlägt.
Von Anfang steht die Überlegung im Raum, gemeinsam auf ein großes Festival in den USA, in der Wüste Nevadas, zu fahren (im letzten Abschnitt wird dann schließlich das Festival geschildert). Aiden will hierfür einen großen Holzdrachen bauen, der dann feierlich am Festival verbrannt werden soll. Der Drache, könnte man sagen, ist ein Symbol und ein Katalysator für die Übergangperiode, die das Buch schildert. Es ist die Periode in der die schwierige Beziehung zwischen Hannah und Aiden bröckelt und Aiden Bill kennenlernt …
Die Entfremdung zwischen Hannah und Aiden macht einen großen Teil des Buches aus und Jungmaier gelingt es, diese Entfremdung in gut inszenierten Etappen mit nachvollziehbaren Kontexten darzustellen; wie Aiden und Hannah selbst und allen um sie herum, wird auch den Leser*innen lange vor der Trennung klar, dass es aus ist, dass die Wege sich trennen werden; gleichzeitig weiß man, dass es noch eine Weile dauern wird, bis die beiden das Unausweichliche akzeptieren und vollziehen werden.
Obwohl die Inszenierung der Trennung gut ist, bleibt der Hauptcharakter Aiden sehr blass. Oft wirkt er wie ein Versatzstück, wie die bloße Summe seiner Attribute. Das mag zum Teil daran liegen, dass diese Attribute nicht subtil herangetragen, eingewoben, sondern mehr als einmal wie über den Lesenden ausgeschüttet werden. Aidens Ich-Perspektive, die an einigen Stellen sehr geschickt als Ausdruck seiner Gefühlswelten und gleichermaßen als Aufhängung für das Narrativ fungiert, wird dann zu einem Schwall von Selbsterklärungen/-bemerkungen, der zwar umfassend informiert, aber mit seinem geringen Maß an Behutsamkeit auch ein wenig die vierte Wand einreißt.
„Mein Gefühl für das Geschriebene war wie ein Körperteil, der mich schmerzte, wenn ich ihn nicht bewegte. Ich war auch gut mit Sprachen, besonders mit Englisch, natürlich, mein Vater war Brite. Ich hatte rein äußerlich nicht viel Britisches an mir – bis auf meine roten Haare vielleicht – man hörte es mir jedenfalls nicht an, und über meinen Vater redete ich nicht.“
In einem Roman, behaupte ich, kommt es häufig darauf an, die Illusion einer fiktiven Wirklichkeit mit nicht zu auffälligen Mitteln aufrechtzuerhalten. Es ist also wichtig, wie Informationen an die Lesenden herangetragen werden, vor allem, wenn es eine/n Ich-Erzähler*in gibt. Eine Ich-Figur kann einfach sagen, dass sie so und so ist, dies oder das denkt, das ist der einfachste Weg; gerade deshalb sollte man ihm misstrauen, finde ich.
Sollte es nicht vielmehr so sein, dass man beim Lesen zunächst von vielen Dingen einen Eindruck, eine Vorstellung gewinnt, über einige Zeit, bevor sich diese Vorstellungen und Eindrücke dann in einer Bemerkung oder einem Gedanken der Figur erhärten, verdichten? Geht man den kürzeren, einfacheren Weg, wird das Profil einer Figur vielleicht schneller klar, die Idee dahinter ersichtlich, aber diese Figur wirkt dann auch rasch uninteressant, eindimensional, plakativ; Figuren brauchen eine Seele, die als ambivalente Möglichkeit über jeder Szene, jedem Thema schwebt und nicht ein klares Profil, das ihre Handlungen von vorneherein festzulegen scheint.
Eine andere, allerdings gut gelöste Balance, ist die zwischen Real-Life-Touch und Unterhaltungsfaktor. Ich kann mir gut vorstellen, dass Aiden und seine Freund*innen ihr Leben tatsächlich so leben wie im Buch, zwischen Job und Freizeit, Drogen und Erregungen und Verdruss, tieferen Lebensthemen und allen spontanen Emotionen, Hochs und Tiefs - und dennoch wird das Buch nicht langweilig.
Viele kleinere Aspekte sind stimmig: Die Figuren Hannah und Sam wirken, obgleich etwas oberflächlich, sehr authentisch und es schadet dem ganzen Buch nicht einmal, dass neben kleineren Krisen alles Friede-Freude-Eierkuchen zu sein scheint und globale Problematiken oder Themen wie Depression, Illusion oder Abhängigkeit nicht wirklich verhandelt werden. Das Buch hat deswegen nichts Utopisches – es ist einfach ein Buch über die relativ sorgenfreie Welt von ein paar sehr an den Reizen und den Freuden des Lebens interessierten Westeuropäer*innen, die zwar ihre Probleme mit sich selbst haben, aber nicht wirklich hart fallen können. Zwar gibt es das Drama zwischen Aiden und Hannah, aber auch hier geht es nicht zum Äußersten, es gibt lediglich eine dramatische Kurve, die für ein paar Wendungen und die nötige Spannung sorgt.
Warum empfinde ich Aiden als Protagonisten in vielen Momenten misslungen? Ich traue mich kaum zu schreiben, dass es auch daran liegen mag, dass ich Jungmaier den bisexuellen Mann einfach nicht abkaufe.
Es ist nicht so, dass die vorhandenen Beschreibungen von Aidens Innenleben und seinen Handlungen inakkurat sind. Es ist mehr so, dass sie für meinen Geschmack nicht tief genug gehen. Wäre Aiden nicht der Ich-Erzähler, sondern einfach eine Figur, würde das Geschriebene sicher ausreichen – aber so fehlt, in meiner Wahrnehmung, eine bestimmte Dimension, die wichtig wäre, die man sich von einem Ich-Erzähler oder einer Ich-Erzählerin erhofft. Wie bereits gesagt: Aiden wirkt mitunter wie ein Versatzstück. Jungmaier gelingen Einfühlung und Darstellung dort, wo es um die grundlegenden, die menschlichen Belange geht – doch dort, wo es auch darum geht (oder darum gehen könnte), dass Aiden ein Mann ist, ein bisexueller noch dazu, wirkt der Stoff dünn.
Damit ich nicht falsch verstanden werde: ich bin nicht dafür, dass man prinzipiell und strikt zwischen Männern und Frauen unterscheidet oder ausschließlich in diesen binären Kategorien denkt. Diese Denkweisen zu sprengen ist eine wichtige Aufgabe, der sich die Menschheit in diesem Jahrhundert stellen muss.
Aber es geht ja hier nicht um das, was werden soll, sondern auch um das, was ist. Gegen die Darstellung einer Person, die sich mit eben diesen Denkweisen auseinandersetzt, hätte ich natürlich nichts einzuwenden. Aiden ist die schöne Zeichnung eines fast schon geschlechtsunspezifischen Menschen (und vielleicht war das Jungmaiers Absicht). Aber dieses Bild spart eine Auseinandersetzung mit den psychologischen und gedanklichen Facetten und Konflikten, die ein mit männlichen Geschlechtsorgangen geborener Mensch im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wohl begegnet ist oder mit sich trägt, aus, und Aidens Zustand wirkt daher wie ein deus ex machina-Phänomen. Auf mich wirkt es, als setze sich Aiden kaum einmal mit sich selbst auseinander – und wenn doch, dann nur insoweit, wie es der Voranbringung des Plots dient. Und alle Beziehungen zu anderen scheinen für ihn selbst im Moment des Hinterfragens etwas ungeheuer Gegebenes zu haben. Seine Akzeptanz der Dinge wie sie sind mag etwas Wegweisendes haben, sie hat aber auch etwas Unrealistisches.
Vielleicht verlange ich in dieser Hinsicht viel zu viel; vielleicht ist das Ungenügen, das ich dem Buch unterstelle, vielmehr mein Ungenügen, vielleicht kann ich mich nicht einfühlen in diesen Menschen, vielleicht versuche ich es nicht genug; vielleicht sollte ich akzeptieren, dass Jungmaier einen solchen Menschen kreiert hat, der fernab der Dinge steht, mit denen ich mich gerne auseinandersetze. Was mir allzu glatt erscheint, mag eine Vision sein, die ich vielleicht deshalb nicht teilen kann, weil ich zu sehr auf Ambivalenzen fokussiert bin und Jungmaiers Fokus nicht annehmen kann.
Letztlich ist es sowieso problematisch, wenn ich Jungmaier irgendwelche Erfahrungen abspreche – jeder hat das Recht auf seine eigenen Erfahrungen, ganz gleich, wie oder mit was er geboren wurde.
Ich hoffe, man versteht trotzdem meine Bedenken. Ich konnte „Sonnenkönige“ so wenig abgewinnen, weil ich immer auf den Bruch wartete, die Ambivalenz, den Konflikt – jene Dinge, die ich für das Dilemma des menschlichen Wesens halte, in denen seine ganze Schönheit, aber auch sein ganzes Scheitern enthalten ist, untrennbar.
Das mag eine zu dramatische Sichtweise sein. Vielleicht ging es Jungmaier eher um das Beiseitelassen dieser Dinge, um eine unspektakuläre Erzählung, in der die Idee eines heilen Lebens und die Möglichkeit alles zu überwinden aufscheinen. Wenn dem so ist, dann ist ihr das nicht schlecht gelungen. „Sonnenkönige“ überflügelt das Seichte zwar nur knapp, fliegt aber hoch genug.
„– Hannah ist ein guter Mensch, sagte ich.
– Das sind wir doch alle, sagte Sam und zog eine Augenbraue hoch. Aber wir sind nicht alle gut füreinander.“
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