Zeitworte, die gewusst sein wollten
Dass ein unreflektiertes Leben es nicht wert sei gelebt zu werden, heißt es bekanntlich bei Sokrates; viele Jahrhunderte später merkt Mark Twain dazu an, dass ein allzu reflektiertes Leben sich andererseits aber auch durchaus lebensverhindert auswirken könne.
Wissen und Nicht-Wissen, jenes fragil-prekäre Gleichgewicht, das jeder Mensch für sich ausbalancieren muss, wird für den Schriftsteller zu der Herausforderung schlechthin.
Ob er es will oder nicht, ob es ihm bewusst ist oder nicht, sein Material ist das Leben, sein eigenes zuvörderst. Wie er damit umgeht, wie er sich dem impliziten Imperativ, der in dieser Konstellation unruhig beschlossen liegt, stellt, wird seinen Stil erschaffen und der inneren Dimension und äußeren Gestalt seines Schreibens ihr unverwechselbares Gepräge verleihen.
Zwischen zwei Motti, dem Sartre Wort Vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber diese Zeit ist unsere, und Kierkegaards Man kann das Leben nur rückwärts verstehen, aber man muss es vorwärts leben, entfaltet sich der poetische Kriegszyklus von Marlies Schmidl eine rosa seidenbluse, in dem sie hinabtaucht in ihre Kinder- und Jugendjahre, die vom Krieg und dessen Auswirkungen gezeichnet sind.
Viele Jahre hat es gedauert, bis die Autorin sich zurückgewagt hat, bis sie innerlich bereit war, lange Verdrängtes an die Oberfläche ihres wachen Bewusstseins zu holen, um es in poetischen Chiffren umzusetzen oder im Prozess ästhetischer Formung zu objektivieren, sprich: zugänglich zu machen für den Leser und dessen eigene Lebenserfahrung.
Scheinbar mühelos gelingt es Marlies Schmidl dabei in wenigen, kargen Worten jene typischen, von Not und Angst durchdrungenen Atmosphären wachzurufen, die für ihre Generation prägend waren, und die heute den Nachgeborenen ein Bild von einer Welt vermitteln können, die im Zeichen universaler Zerstörung und existentieller Desorientierung nach einem materiellen und moralischen Neuanfang suchte.
Was die besondere Qualität von Marlies Schmidls Gedichten ausmacht, ist, dass stets der Mensch als Individuum im Fokus steht. Sei es das Mädchen Sarah, das eines Tages sang -und klanglos von der Schulbank verschwand, seien es der junge Pilot und seine Mutter oder der Mongole, ein sowjetischer Soldat, der sich zwar einen Spaß daraus macht, das junge Mädchen zu erniedrigen, ihm aber am Ende nichts antut.
Marlies Schmidl hat ihren Kriegszyklus in drei Teile gegliedert: in die Erlebte Zeit des Krieges, das Poem Panzerspuren und in die Erlebte Zeit des Nach-Krieges.
Zusammengenommen bilden diese drei Teile eine Art Flügelaltar, in dessen Zentrum zwar die Zerstörung steht, gemäß der Tradition indes aber keineswegs das letzte Wort behält. Durchaus im inneren Sinne christlicher Ikonographie, ist im letzten Teil vom Über - oder Weiterleben die Rede, dem tastenden Versuch, die verloren gegangene Würde wieder herzustellen, aus den Trümmern, neue Perspektiven für ein Später zu entfalten: das wahre, das richtige Leben, die Zukunft.
Das oben bereits zitierte Wort Kierkegaards bringt es auf den Punkt: Es ist in extremen Situationen nahezu unmöglich, jene reflektierende Perspektive einzunehmen, die Sokrates als Voraussetzung für ein gelingendes Leben einfordert; seelische Gesundheit ist allerdings auf Dauer nur dann möglich, wenn man bereit ist, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Nicht um sich von ihr zu befreien, sondern um sie der eigenen Geschichte als gewusst einzuverleiben.
Marlies Schmidl ist dies mit ihrem Kriegszyklus auf unaufdringliche, deshalb aber umso nachhaltigere Weise gelungen. In ihren leisen Tönen verbirgt und enthüllt die deutsche Geschichte ihr unmenschliches und ihr menschliches Antlitz.
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