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Kritik

Erotisches Unterwegssein

Hamburg

Nur im einleitenden Text "Reisen ist körperlich" geht Jürgen Ploog auf das Pornografische (auch im Titel) ein. Es gibt keine Pornografie mehr, da heute "stets & überall [...] das Nackte durchschimmert", also alles eigentlich pornografisch ist. Dem setzt Ploog eine andere Wahrnehmung entgegen, nämlich die des Reisens. Der Titel des Buches ist dabei eher irreführend, bzw. Ploog betreibt ein Spiel mit Pornografie. Es geht ihm eher um eine (starke) Erotik des Unterwegsseins. Der Text erzählt in vielen Episoden "was er von seinen vielen Ausflügen ins erotische Niemandsland mitgebracht hatte." Auch die 28 im Buch verstreuten Collagen, reichlich mit nackten Frauen bebildert, dazu in schwarzweiß und etwas unscharf, erlauben dem Betrachter eine veränderte Wahrnehmung.

Dabei treibt sich der Text Kleine Pornografie des Reisens herum, in den Kaschemmen, Bordellen, den Live-Sex-Shows, vorzugsweise im globalen Süden, also Nordafrika, Südamerika oder Asien, dort, wo ein Paar hingeht "& der Mann die Frau an die Wand drückte & sie im Stehen fickte." Die typische Konstellation dabei: Max und eine Frau, im Hotelzimmer, in der Stadt oder unterwegs. Oft gehört eine konfliktgeladene Konversation dazu. Der Mann heißt immer Max (ein Alter Ego von Ploog), die Frauen heißen immer anders: Mara, Smeralda, Glenda, Shima, Lorita, Laura, Kiki, Anita, Lona, Rosetta, Violetta, Linda, Amber, Alice, Xina.

Die Kleine Pornografie des Reisens als Buch erscheint dabei relativ belesen. Finden sich doch zahlreiche literarische Andeutungen darin: "Das Grauen, von dem Kurtz im Herz der Finsternis sprach" (Joseph Conrad), Glasperlenspiel (Hermann Hesse), Ziggy's Stardust (David Bowie), Schuld & Sühne (Fjodor M. Dostojewski), Orgon-Smog (Wilhelm Reich), Waste Land (T. S. Eliott), Silver Screen (ist eine Anthologie neuer amerikanischer Lyrik, herausgegeben von Rolf Dieter Brinkmann, 1969). Zweimal wird im Buch Peter Lorre erwähnt, verweist damit auf das Buch Peter Lorre in Metropolis von Jürgen Ploog, 1988. Und "die Kunst der kybernetischen Erotik" weist zurück auf das frühe Buch Die Fickmaschine. Ein Beitrag zur kybernetischen Erotik, ebenfalls von ihm, 1970.

Aber viel stärker sind die Andeutungen auf William S. Burroughs. Ploog hat ihn ja über viele Jahre hinweg besucht, mehrere Interviews mit ihm geführt, und man kann Burroughs schon einen Mentor von Ploog nennen. Die Andeutungen auf Burroughs oder dessen Umfeld sind zahlreich:

"und wie jeder Organismus (und Sprache war ein Organismus) versuchte auch dieser, jeden Fremdkörper unschädlich zu machen"

Das verweist direkt auf eine der Hauptthesen von Burroughs, dass nämlich Sprache (nicht nur ein Organismus, sondern sogar) ein Virus ist. Burroughs' griffige Formulierung dafür, Word is Virus, hat Ploog sogar als Titel seiner "essays 100 jahre wsb" gewählt (wsb = William S. Burrroughs).

Der Satz "Strassen des Zufalls, die sich im Hinterland der Kontinente verlieren." verweist auf die Biographie, die Ploog über Burroughs geschrieben hat. Strassen des Zufalls. Über W.S. Burroughs ist eins vom besten, was je über Burroughs geschrieben worden ist, und das nicht nur im deutschsprachigen Raum. Der Ausdruck Cola-Hinterland ist übrigens ein Ausdruck von Ploog für die Bundesrepublik Deutschland.

"Vigilantes" ist unter anderem eine Figur in Naked Lunch, Burroughs' bekanntestem Buch.

An einer Stelle wird auch von der Wahrnehmung der Realität als ein Film gesprochen. Dies ist eine Metapher, die von Burroughs verwendet wurde, zum Beispiel in Nova Express.

"Zwei Männer [...] Der erste stellte die Fragen & der zweite würde fürs Grobe zuständig sein." Referenz in Anlehnung an den Abschnitt "Hauser und O'Brien" aus Naked Lunch. Dort heißt es nämlich: "O'Brien machte es auf die sanfte Tour. Hauser war der Ruppige."

Lemuria bzw. Lemurenland beziehen sich auf das Buch Ghost of Chance von Burroughs, das unter anderem von den Lemuren auf Madagaskar handelt.

Ploog spielt in seinen Texten mit der Fiktion, mit dem Zufall. Warum er das macht? Ploog:

"usually I don't know what I will write about when I start to write... I feel this gets the best results. The material can later be shifted, rearranged, cut out or expanded. [...] So random is only the first step but the results are in no way binding or have to be left untouched."

Zitiert aus der Einleitung von Edward S. Robinson zu der "Cut-Up Novella" Flesh Film von Jürgen Ploog, siehe realitystudio.org/publications/flesh-film. (Flesh Film soll demnächst übrigens auch bei Moloko Plus in gedruckter Form erscheinen.)

Es ist bekannt, dass Ploog sein Berufsleben lang Langstreckenpilot bei der Lufthansa gewesen ist und sich seit 1993 nur noch dem Schreiben widmet. Man könnte die vorliegenden Texte auch als autobiographisch auffassen, als real, insbesondere was die vielen erotischen Abenteuer betrifft. Dieser Eindruck wird von Ploog noch dadurch verstärkt, dass er teilweise autobiographische Anmerkungen in den Text eingeflochten hat, z.B. dass Max nicht mehr fliegt: "Er war nicht deswegen frei, weil er nicht mehr flog & nicht mehr für andere arbeitete." "Nicht die Flüge hatten ihn geschafft, sondern die Nächte zwischen ihnen [...] Aber das war vorbei. Nicht Geschichte, sondern Teil seiner Lebensgeschichte." "Plötzlich wurde ihm klar, dass er noch immer die Augen eines Piloten hatte."

Diese Vermischung von Fiktion und Autobiographie passiert gemäß dem Sinnspruch "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt". Dieser Satz geht auf Hassan i Sabbah zurück, dem Gründer der Ismaeliten-Sekte, die Assassinen. Das war gegen Ende des 11. Jahrhunderts und spielte sich am Berg Alamut ab. Dieser Sinnspruch wurde nicht nur von Friedrich Nietzsche aufgegriffen, sondern auch von Burroughs. Da Ploog stark von Burroughs beeinflusst worden ist, ist die Anwendung dieses Spruchs auf den vorliegenden Text nachvollziehbar. Dass das auch die Intention des Autors ist, kann man an mehreren Stellen im Text erkennen, in denen dieser Sinnspruch in modifizierter Form referenziert wird: "Für jemand, der sich außerhalb vertrauter Zeichen bewegte, war alles wahr", "tatsächlich passierte hier ein Ausbruch aus dem globalen Dorf, in dem nichts wahr und immer weniger erlaubt war." und "Alles war möglich & jede Spielart erlaubt."

Auch das Reisen selbst ist für Ploog eine Metapher. Er unterscheidet zwischen den äußeren Reisen und den wirklichen Reisen (zu denen er auch das Träumen zählt). Äußere Reisen können reine Füllsel sein. Sie können in eine Sackgasse führen, von ihnen muss man zurückkehren, zurück in den Alltag. Aber die Reisen, auf die es ankommt, enden nie, und es gibt auch keine Rückkehr. Denn sie erlauben eine veränderte Wahrnehmung.

Aber auch bei den vielen Frauengeschichten geht es um Wahrnehmung, "war sich nicht sicher, ob die erotischen Zeichen, die er wahrnahm, nicht wieder (wie so oft) eine Projektion seiner phallischen Phantasie waren. Zu oft hatte er sich auf das Lächeln einer Frau verlassen". Man könnte Kleine Pornografie des Reisens  also auch als ein Buch über die Frauen verstehen. Ein Frauenversteher-Buch. Einmal spricht er von "Beziehungschirurgie". Auch Ratschläge sind zu finden: "Wenn du eine Frau zum Lachen bringen kannst, dann kannst du sie auch haben". Feststellen lässt sich ebenfalls, dass Ploog auch ein Meister darin ist, Intimität gekonnt mit Sprache darstellen, so dass sie nicht plump oder gar ordinär wirkt.

Aber das beides - also Frauenversteher oder Erotik - ist letztlich nicht genug, damit ein Leser - oder gar eine Leserin - an diesem Buch Gefallen finden wird. Denn das Hauptmotiv dieses Buches ist es, dem Leser eine andere Auffassung von Wirklichkeit nahezubringen, wie sie durch eine veränderte Wahrnehmung beim Reisen erfahren werden kann - ob physisch oder im Traum oder in der Erinnerung ist dabei egal.

Jürgen Ploog
Kleine Pornografie des Reisens
Originalcollagen. Jürgen Ploog Bearbeitung & Gestaltung. Robert Schalinski
Moloko Print
2017 · 20,00 Euro
ISBN:
978-3-943603-40-8

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