Eine etwas allzu lieblose Edition
Saß man mit Hans Sahl zusammen im Gespräch über Gott und die Welt, konnte es passieren, daß er aus heiterem Himmel zu einer Philippika gegen seine Verleger ansetzte und sich über deren leere Versprechungen, Gleichgültigkeit oder sogar Untätigkeit in den Bemühungen um seine Bücher ereiferte. Meist glätteten sich die Wogen rasch wieder, und mit einem Augenzwinkern gab er zu verstehen, daß er an der verlegerischen Front im Grunde doch mehr Erfolge als Niederlagen aufzuweisen habe. Gelegentlich aber war diese Empörung auch ernst gemeint, und dann betraf sie meist das Schicksal seiner Gedichte. Nein, nicht die seiner ersten Anthologie, dieses poetische Tagebuch seiner Exiljahre in Frankreich, das er 1942 unter dem Titel Die hellen Nächte – zwar nur in kleiner Auflage, dafür aber in schwierigsten Zeiten, mitten im Krieg, im fernen New York und das auf Deutsch (!) – hatte veröffentlichen können (1). Ebensowenig galt die Erregung seiner lyrischen Zeugenschaft als gewissermaßen letzter Überlebender einer Generation deutsch-jüdischer Schriftsteller, die Hitler, wenn nicht ermordet, so in alle Weltwinde verjagt hatte. Denn diese zweite Sammlung mit dem Titel Wir sind die Letzten (2), die Sahl überhaupt erst einem breiteren Publikum als Dichter bekannt machte, erfüllte ihn stets mit Stolz, zumal sie eine zweite Auflage erfuhr (3). Nein, seine beinahe ohnmächtige Wut galt vielmehr der gescheiterten ersten Ausgabe seiner Gesammelten Werke im Züricher Ammann-Verlag. Als die Verantwortlichen Ende der 1980er Jahre beschlossen, diese Edition wieder einzustellen – zwischen 1983 und 1987 waren gerade einmal zwei Bände erschienen (4) – blieben damit vor allem auch Sahls „sämtliche Gedichte“ auf der Strecke, die den Auftakt, den Band 1, dieser Ausgabe hatten bilden sollen und deren Erscheinen unter dem Titel Der Mann im Stein bereits angekündigt war.
Auf diesem Hintergrund nehmen sich die jetzt erschienenen, von Sahls Stiefsohn Nils Kern und dem Lektor des Luchterhand-Verlags, Klaus Siblewski, herausgegebenen Gedichte wie das postume Einlösen eines Versprechens aus, denn „mit dieser Ausgabe“ werde, wie Verlag und Herausgeber gleichermaßen stolz verkünden, „endlich“ Sahls „lyrisches Werk als Ganzes zugänglich gemacht“ (5). Ob Hans Sahl freilich vorbehaltlos glücklich mit dieser Sammlung geworden wäre, darf bezweifelt werden, denn weder enthält dieser Band auch nur annähernd vollständig seine hinterlassenen Gedichte, noch ist die Sammlung – was die gelegentliche Rede von einer bloßen „Lese-Ausgabe“ (S. 307) nahelegen könnte – ein repräsentativer Querschnitt durch Sahls dichterisches Schaffen.
In den editorischen Bemerkungen zur Ausgabe heißt es, die Herausgeber hätten es als eines ihrer Hauptanliegen betrachtet, das Publikum einerseits mit den zahllosen Inedita unter Sahls Gedichten bekannt zu machen und andererseits jene lyrischen Werke wieder hervorzukramen, die zwar „als einzelne“ bereits „veröffentlicht“, jedoch „zum großen Teil“ längst „wieder“ der „Vergessenheit“ anheimgefallen seien (S. 307). Da in diesem Zusammenhang zugleich das Wort von der „Vollständigkeit“ bemüht wird, fragt man sich, warum gleich eine Vielzahl der publizierten Gedichte Sahls in dieser Sammlung fehlt. Beispielsweise jene, die er zwischen 1942 und 1988 im New Yorker „Aufbau“ (Worte für eine Ausstellung (6), Verse, Die Bäume, Vietnamesisches Wiegenlied, Hölderlins Turm, Paul Falkenberg), im Berliner „Tagesspiegel“ (Haus im Walde) und im Zürcher „Tages-Anzeiger“ (Zürich 1937) veröffentlichte; aber auch solche, die sich in unterschiedlichen Publikationen seiner Werke gewissermaßen ,versteckenʽ, etwa in seinem Briefwechsel mit George Grosz (Horch, der Boss geht durch das Haus, Zwei Widmungen für George Grosz) (7). Auch der Nachlaß birgt weit mehr als die hier versammelten „unveröffentlichte[n] Gedichte“ (S. 239-296), bei denen es sich, nebenbei bemerkt, beileibe nicht immer um bislang unpublizierte Werke handelt (8). An die Deutschen, Nekrolog, Die Ballade vom Lake Iroquios, Für W. R., Silone, Die Neutralen, Mariechen, Ein Herr aus Danzig: das sind nur einige wenige, wahllos herausgegriffene Titel, die man in diesem Band vergebens sucht.
Bei den zuletzt genannten handelt es sich übrigens um Texte, die Sahl fürs Kabarett schrieb. Gehören diese Balladen, Lieder und Chansons, die für Erika und Klaus Manns „Pfeffermühle“ (9), aber auch für das Schweizer „Cornichon“ (10) bestimmt waren, denn nicht in die Gesamtausgabe eines lyrischen Werkes? Und was ist darüber hinaus mit seinen Nachdichtungen, seinen – nein, nicht simplen Verdeutschungen, sondern – kunstvollen Übertragungen englischer und französischer Vorlagen eines William Butler Yeats (11), Theodore Roethke (12) und Fénelon (13)? Hätten sie nicht ebenfalls Berücksichtigung in diesem Band finden müssen? Und das gereimte chorische Gespräch Stimme von drüben (14)? Oder die Chöre und Lieder des Oratoriums Jemand (15)?
Die Luchterhand-Ausgabe ist in „zwei Abteilungen“ (S. 310) gegliedert. Die erste und umfangreichere enthält die noch von Sahl selbst zusammengestellten Anthologien Wir sind die Letzten (S. 7-81) und Der Maulwurf (S. 83-185) sowie, unter dem Titel Dichte mich!, vorgeblich alle übrigen seiner veröffentlichten lyrischen Werke (S. 187-238); die zweite, Was bleibt überschrieben, bietet hingegen bislang unpublizierte Gedichte aus dem Nachlaß dar (S. 239-296). Was die innere Logik dieser Sammlung, d. h. die Anordnung der Gedichte betrifft, herrscht eine geradezu verwirrende Vielfalt.
Daß man eine Sammlung sämtlicher Gedichte mit den mehr oder minder geschlossenen Anthologien beginnen läßt, macht ja noch Sinn. Aber warum bietet man nur zwei der insgesamt drei Gedichtsammlungen geschlossen dar, für deren Komposition Sahl in erster Person verantwortlich zeichnete? Die Hinweise und Erläuterungen zur Edition im Nachwort des Bandes geben auf diese Frage keine Antwort. Dort heißt es lediglich, man habe die beiden letzten Gedichtbände Wir sind die Letzten und Der Maulwurf „wegen der herausgeberischen Leistung des Autors bei der Zusammenstellung dieser Bücher“ als Ganzes erhalten wollen (S. 310). Warum nicht auch den dritten (in der Chronologie des Erscheinens übrigens ersten), die 1942 erschienenen Hellen Nächte? Hat der Autor in ihrem Falle etwa keine „herausgeberischen“ Meriten? Oder hat man nur Wiederholungen bzw. Zweifachdrucke vermeiden wollen (16)? Denn einige Gedichte dieser frühesten Sammlung hat Sahl seiner Anthologie Wir sind die Letzten wieder einverleibt (freilich mit einigen nicht unerheblichen Bearbeitungen (17)). Und nicht nur das! In dem Abschnitt Aus „Die hellen Nächte“, 1942 (im hier besprochenen Band S. 25-48) gibt die Anthologie Wir sind die Letzten mit Hurrikanwarnung (S. 27), Exil (S. 28) und Kalenderblatt (S. 30) Gedichte wieder, die in der gedruckten Fassung der Hellen Nächte gar nicht auftauchen. Sahl griff also in den 1970er Jahren noch einmal in die Schatzkiste bzw. (um es hier mit den Worten der Nachbemerkung zu sagen) auf sein „große[s] Reservoir von Gedichtmanuskripten“ (S. 306) zurück, um seine neue Sammlung anzureichern und abzurunden. Nur bildete besagtes „Reservoir“ in diesem Falle nicht sein heute im Deutschen Literaturarchiv in Marbach a. N. verwahrter Nachlaß, sondern die Urfassung dieser hauptsächlich in den Jahren 1939-41 entstandenen Gedichte. Sollte den Herausgebern etwa entgangen sein, daß das Manuskript der ,Hellen Nächte' aus Frankreich. (Camp de Vernuche, Herbst 1939. Marseille 1940/41. New York, 1942 (so die vollständige Titulatur) unter der (heutigen) Signatur „MS Ger 88“ in der Houghton Library der amerikanischen Harvard-Universität verwahrt wird (18)? So fristen denn die Hellen Nächte – oder besser gesagt: das, was von ihnen übrigblieb, nachdem man sie einiger ihrer bemerkenswertesten Gedichte beraubt hat – ihr Dasein inmitten der verstreut veröffentlichten Gedichte (s. S. 201-224), wo sie nicht einmal als Torso hingehören.
„Die Gedichte, die vor dem Band ,Die hellen Nächte‘ erschienen, folgen einer Auswahl, die kurz nach Sahls Tod im Rahmen eines noch gemeinsam mit ihm projektierten Dossiers erschienen. Die sich anschließenden Gedichte sind chronologisch nach ihrem Erscheinungsdatum angeordnet worden.“ Die „unveröffentlichten Gedichte“ hingegen sind „vorsichtig in eine Abfolge gebracht, die Assoziationen an Hans Sahls Biographie weckten und eine Ahnung von den Fragen nahelegte, die ihn in den verschiedenen Lebensabschnitten beschäftigt haben.“ (S. 311) Um mit dem Letzten zu beginnen, und zwar daß die Abfolge von Lebenserlebnissen, daß Erfahrungen und all das, was man etwas salopp vielleicht als „Was dem Dichter so durch den Kopf ging“ bezeichnen darf, Ordnungskriterien bei der Einrichtung einer Ausgabe gesammelter oder auch sämtlicher Gedichte abgeben können: Es dürfte selbst jenen, die mit Sahls Werk und Leben zutiefst vertraut sind, schwerfallen, überzeugend zu begründen, warum etwa Der Nachtfalter – „Der Nachtfalter irrt auf dem Bildschirm umher, / Geblendet vom Flackern des Lichts. / Er glaubt, es wäre ein Flammenmeer, / aber es ist nur ein Fenster ins Nichts.“ (S. 283) – irgendwo zwischen einer Ode auf Israel (S. 279 f.) und einigen Liebesgedichten der 1980er Jahre (S. 290 ff.) zu stehen kommt und nicht an einem beliebig anderen Ort. Was hingegen den ersten Teil der gerade zitierten Aussage betrifft, sind die Herausgeber offenbar einem Irrtum aufgesessen: Sahl hat zu keiner Zeit und in keiner Weise auf die Publikation der hier in Frage stehenden Neun Gedichte in der Zeitschrift „Juni“ Einfluß genommen. Insofern geht deren chronologische ,Unordnung‘ auch nicht auf irgendwelche besonderen kompositorischen Wünsche Sahls zurück, sondern schulden sich schlichtweg dem Zufall. Und nicht zuletzt deshalb hätten die Herausgeber im Band des Jahres 2009 die entsprechenden Gedichte von Alter (S. 189) bis Berliner Elegie (S. 199) durchaus in die korrekte Abfolge ihres zeitlichen Erscheinens bringen dürfen (19). Doch mit dieser korrekten Chronologie ist es ohnehin nicht weit her, denn auch bei der Einordnung der Gedichte von Die Auster (S. 225) bis Dichte mich (S. 238) hat mal das Erst-Erscheinungsdatum, mal das der benutzten Ausgabe (20), und mal das Abfassungsdatum die Hand bei der Arbeit geführt
Selbst wenn es diese Edition primär auf eine bloße Popularisierung des Dichters Hans Sahl abgesehen hätte, so unterliegt doch auch eine Arbeit mit dieser Absicht gewissen Regeln und Standards, in die selbstverständlich auch das ,Beiwerk', Apparat und Nachwort, einbezogen ist. Mit den Quellennachweisen ist wenig Staat zu machen, vor allem auch deshalb nicht, weil sie dem Leser entscheidende Dinge vorenthalten, wie etwa detaillierte und unmißverständliche Auskünfte über die Druckvorlagen, aber auch kursorische Hinweise auf bemerkenswerte Einzelheiten der Publikationsgeschichte: daß beispielsweise das Lied der Zwölf unterwegs (S. 197 f.) erstmals, und zwar am 16. Juni 1933, in der in Prag redigierten Exil-Zeitung „Der Sozialdemokrat“ gedruckt wurde und erst danach auch in die Spalten der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ gelangte (exakt einen Monat später); daß es außerdem im sozialdemokratischen Exilblatt „Neuer Vorwärts“ in Karlsbad (25.6.1933) sowie in den Saarbrücker Zeitungen „Deutsche Freiheit“ (am 25./26.6.1933) und „Volksstimme“ (18.7.1933) veröffentlicht wurde; und daß das Lied in den Drucken der „Arbeiter-Zeitung“ und der „Volksstimme“ noch diese (von Sahl oder von der Redaktion stammende) Marginalie enthält: „So singen Emigranten an Straßenecken, in Kabaretts und Schankstätten jenseits der deutschen Grenzen. – Der Song wurde im Hilversumer Sender vorgetragen.“ Das Nachwort hingegen ist eine derartige Anhäufung von Ungenauigkeiten und Wiederholungen, Übertreibungen und peinlicher Banalitäten – „Wenn wir von 1942 aus bis 1902, Sahls Geburtsjahr, zurückrechnen, dann kommen wir zu dem Ergebnis, Sahl war […] 40 Jahre alt.“ (S. 300 f.) –, daß es kaum lohnt, viele Worte darüber zu verlieren. Aber vielleicht sollten wenigstens einige wenige seiner gewagten Behauptungen hier abschließend kurz zurechtgerückt werden.
Das Erscheinen der Hellen Nächte stellt keineswegs „etwas Einzigartiges“ (S. 299) dar, weder in der Geschichte der deutschen Exilliteratur noch im Panorama des Verlags-Programms: Der Verleger Barthold Fles hatte erst kurz zuvor Gedichte Berthold Viertels und (in Zusammenarbeit mit dem Londoner Verlag Barmerlea) Max Herrmann-Neisses herausgebracht (21). Ebensowenig ging Fles „ein Wagnis ein, als er sich dazu entschied, Sahls Gedichte in sein Programm aufzunehmen.“ (S. 300) Seine einzige ,spekulative Investition – und Sahl hat diese Geschichte in allen Einzelheiten in seinen Memoiren erzählt (22) – bestand darin, tausend Werbeprospekte (23) herstellen zu lassen, mit denen sich Sahl auf die Suche nach 250 Subskribenten machen konnte, nach deren Unterschrift Fles dann mit der Drucklegung des Buches beginnen würde. — Sahl hat bis 1933 gerade einmal ein gutes halbes Dutzend Gedichte (exakt: acht) publiziert. Daß er „sich mit diesen wenigen Veröffentlichungen in der großen Menge der damals aktiven Autoren rasch einen Ruf als bedeutender Lyriker [zu] erwerben“ vermocht habe (S. 301), für diese Behauptung hätte man gern einen Beleg. Das möchte man doch einmal sehen, daß ein Dichter-Kollege, Kritiker oder auch nur Freund Sahls Verse wie die folgenden ernsthaft zur großen Dichtung des 20. Jahrhunderts rechnete: „Du gingst vorbei / Und grüßtest schmal. / Dein Hüftenschritt / Warf mich zu Tal.“ (S. 196)
Man tut Sahl keinen Gefallen mit solchen Übertreibungen, denn er reimte nicht mit Blick darauf, einst in den Panthéon der zeitlosen Poeten einzuziehen. Schon à propos seiner ersten Gedichtanthologie, der Hellen Nächte, schrieb er, es sei nicht seine Absicht gewesen, „,Ewigkeitswerteʽ zu geben […], sondern, in Form von Gedichten, von Balladen Sonetten, Sprüchen etc., die blutige Realität dieser französischen Katastrophe am Leser vorbeiziehen zu lassen, als läse er eine Story …“ (24) Dichten also als eine besondere Form des Erzählens großer Geschichte und kleiner Geschichten in ihrer wechselseitigen Beziehung, von Geschichte und Leben, von Lebensgeschichte im vollen Umfang des Wortes – womit Dichtung Gestaltung nicht des Zeitlosen, sondern des Vergänglichen, Ephemeren wird. Nicht von ungefähr heißt es gleich zum Auftakt dieser frühesten seiner Gedichtanthologien, in der Widmung An den Leser: „Das meiste, was hier steht ist Material, / […] // Es ist so flüchtig, wie wir selbst es wurden, / […] // Wer heute lebt, fragt nicht, was morgen ist.“ (S. 203) Und diese Auffassung durchzieht Sahls lyrisches Werk wie ein roter Faden: „Ein Mann, den manche für weise / hielten, erklärte, nach Auschwitz / wäre kein Gedicht mehr möglich. / Der weise Mann scheint / keine hohe Meinung / von Gedichten gehabt zu haben – / als wären es Seelentröster / für empfindsame Buchhalter / oder bemalte Butzenscheiben, / durch die man die Welt sieht. / Wir glauben, daß Gedichte / überhaupt erst jetzt wieder möglich / geworden sind, insofern nämlich als / nur im Gedicht sich sagen läßt, / was sonst / jeder Beschreibung spottet.“ (S. 11) Und wird schließlich in einem Gedicht mit dem Titel Gedichte schreiben – oder was davon noch übrig blieb zum Programm erhoben: „Früher dichtete ich bewußt, / ein Gefangener im Schraubstock / des Reimens, Feilens, Lötens, / […] // Heute laß ich mich gehen, / warte nicht mehr auf Eingebungen, / streife mit der Flinte durchs Knieholz, / Finger am Drücker, / no exotic birds, please, / sondern Enten, Hühner, Kaninchen, / nichts für Feinschmecker, / profanes Getier, / das mir vor die Kimme kommt, / ich trage es heim, gebündelt, / blutend, angeschossener Alltag, / gehobene Hausmannskost / für Minderbemittelte. // […] // Keats, Yeats, Baudelaire? / Wird bewundert. / Aber: keine Zeit für Filigran. / Mallarmé? Zur Kenntnis genommen. / Brecht? Letzter Versuch / einer Synthese von Hölderlin, Luther, Lenin. // Lyrik in unserer Zeit / kann nur ephemer sein. / Kommunikation mit Bewährungsfrist. / Ich mache mich selbst zum Gedicht. / Ich bin eine Begebenheit. / Ich finde statt. / Ich passiere.“ (S. 79-81)
Was bleibt? Es bleibt der Dichter Hans Sahl, der zwar nicht in dem Sinne zu den Großen der Dichtkunst zu rechnen ist, daß man seinen Namen in einem Atemzug mit denen eines Gottfried Benn, Bertolt Brecht oder einer Else Lasker-Schüler nennen würde, der aber nichtsdestotrotz einige sehr schöne, ja sogar großartige lyrische Werke hinterlassen hat, wie etwa dieses:
„Ich weiß, daß ich bald sterben werde,
zu lange schon war ich auf dieser Welt zu Gast,
auf diesem Flecken, diesem Stückchen Erde,
das du, mein Gott, wenn es dich gibt, mir gabst.Was bleibt von all dem, das ich tat und lebte?
Nur eine Kleinigkeit: Ein Mensch fand statt.
Ein Mensch, der weiß, daß er nun sterben werde
und müde ist und sagt: Ich hab es satt.Fast schon so alt wie dieses, mein Jahrhundert
der Flammenmeere, Mörder, Folterungen,
der Volksverderber und der Volksverächter,
geliebt, gehaßt, gefürchtet und bewundert.So nehmt, o Brüder, eine Hand voll Erde
und gebt sie mir zum Abschied auf den Weg.
Ich weiß, daß ich bald sterben werde.
Ein Gast nimmt leise seinen Hut und geht.“ (S. 237)
Allein schon um solcher Verse willen hätte er eine liebevoller edierte Ausgabe seiner Gedichte verdient.
1) Vgl. Die hellen Nächte. Gedichte aus Frankreich. New York 1942.
2) Vgl. Wir sind die Letzten. Gedichte. (Mit einem Nachwort von Fritz Martini und einer Hans Sahl-Bibliographie.) Heidelberg 1976 < Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt ; 50 >.
3) Vgl. Wir sind die Letzten. Gedichte. (Mit einem Nachwort von Fritz Martini und einer Hans Sahl-Bibliographie. 2., durchges. Aufl.) Heidelberg 1986 < Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt ; 50 >.
4) Vgl. Gesammelte Werke. Hrsg von Klaus Schöffling. [Bd. V:] Memoiren eines Moralisten. Erinnerungen I, Zürich 1983, und Gesammelte Werke. Hrsg von Klaus Schöffling. [Bd. II:] Umsteigen nach Babylon. Erzählungen und Prosa. Mit einem Vorwort von Claudia Steinberg und einem biographischen
Aufsatz von Sigrid Kellenter, Zürich 1987.
5) So auf dem Schutzumschlag des Einbandes; ähnlich lautende Formulierungen finden sich im Nachwort Klaus Siblewskis (s. S. 307, 309 und 311).
6) Nachgedruckt unter dem Titel Macht euch bereit in der Londoner Exil-Zeitschrift „Kunst und Wissen“ (Jg. 1943, Nr. 5, S. 25).
7) Alle hier zitierten Gedichte sind übrigens in der 1995 erschienenen Personal-Bibliographie Sahls verzeichnet (vgl. Gregor Ackermann/ Momme Brodersen, Hans Sahl. Eine Bibliographie seiner Schriften. Mit einem Vorwort von Edzard Reuter. Marbach N.: Deutsche Schillergesellschaft 1995 < Deutsches Literaturarchiv: Verzeichnisse – Berichte – Informationen; 18 >, Nr. 738, 836, 955, 1382, 1503, 1504, 858, 1502 und XX).
8) So ist etwa Ich wäre gern in einer Zeit geboren… (S. 241) nur die erste Fassung eines Gedichts, das Sahl 1942 um zwei Strophen erweiterte, seinem Freund George Grosz 1950 übersandte, und das seit der Veröffentlichung dieser Korrespondenz eben gedruckt vorliegt (vgl. George Grosz/Hans Sahl, So long mit Händedruck. Briefe und Dokumente. Hrsg. von Karl Riha. Hamburg 1993, S. 41 f.); Ähnliches gilt für das Fragment 1945, dessen überarbeitete Version unter dem Titel Und ich, oh Herr, ich blieb verschont? ebenfalls bereits publiziert wurde (s. ebd., S. 44). Hinter dem Deutschland betitelten Werk hingegen (s. S. 255 f.) verbirgt sich nur eine Variation des Gedichts An die Schwester im Elend (im hier besprochenen Band S. 54 f.); im übrigen ist der Text bereits 1946 in der „Neuen Rundschau“ veröffentlicht worden (H. 3 vom April 1946, S. 344 f.). Und Schädelstätte Manhattan (S. 270 f.) findet sich sowohl Im Gewitter der Geraden. Deutsche Ökolyrik 1950-1980 (hrsg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch, München 1981, S. 208 f.) als auch in den Nachrichten aus den Staaten. Deutsche Literatur in den USA (hrsg. von Gerhard Friesen, Hildesheim, Zürich, New York 1983, S. 112 f.). Schließlich: die Ode an Israel (s. S. 279 f.) veröffentlichte der Luchterhand-Verlag 1991 in dem Band „Ich will reden von der Angst meines Herzens“. Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg (Frankfurt a. M. 1991, S. 82 f.).
9) Meines Wissens ist bislang erst eine einzige dieser Arbeiten fürs Kabarett veröffentlicht worden, Das Megaphon, und zwar in einer Geschichte der „Pfeffermühle“ (vgl. Helga Keiser-Hayne, Beteiligt euch, es geht um eure Erde. Erika Mann und ihr politisches Kabarett die „Pfeffermühle“ 1933-1937. München 1990, S. 93)
10) Die im Marbacher Nachlaß Sahls befindlichen Typoskripte von Mariechen und Ein Herr aus Danzig tragen sogar den ausdrücklichen Hinweis darauf, daß sie fürs „Cornikon“ [sic!] geschrieben seien
11) Vgl. Wenn du alt bist. Nach dem Englischen des William Butler Yeats. In: Pariser Tageszeitung, Jg. 4, Nr. 1037 vom 1.7.1939, S. 4
12) Vgl. Wiedergeburt der Elegie. Der Lyriker Theodore Roethke. In: Die Neue Zeitung, Jg. 10, Nr. 164 vom 18.7.1954, S. 14.
13) Vgl. Fénelon (1651-1715): Dialoge der Toten. (Ins Deutsche übertragen von Hans Sahl.) In: Das Neue Tage-Buch, Jg. 7, H. 28 vom 8.7.1939, S. 667.
14) Im Marbacher Nachlaß in zwei Versionen überliefert.
15) Vgl. neben den Erstausgaben von 1938 – dem Begleitheft zur Aufführung (Jemand. Eine weltliche Kantate. Nach den Holzschnitten „Die Passion eines Menschen“ von Frans Masereel. Dargestellt und erzählt von Hans Sahl. Musik von Viktor Halder. Zürich [1938]) und der Buchausgabe im Oprecht-Verlag (Jemand. Ein Chorwerk. Mit den Holzschnitten „Die Passion eines Menschen“ von Frans Masereel. Zürich 1938) – jetzt auch die Neuausgabe: Jemand. Ein Chorwerk. Nach dem Holzschnittzyklus „Die Passion eines Menschen“ von Frans Masereel. Mit der Musik von Tibor Kasics. Materialien und Selbstzeugnisse. Hrsg. von Gregor Ackermann und Momme Brodersen. Berlin 2003 < Akte Exil; 4 >.
16) Die es freilich in dieser Ausgabe gibt, wenn möglicherweise auch unbeabsichtigt: vgl. S. 54 f. (An die Schwester im Elend) und S. 255 f. (Deutschland).
17) So hat er etwa die erste des aus drei Strophen bestehenden Gedichts Café Flore (vgl. Die hellen Nächte, a.a.O., S. 13) in der Ausgabe von 1976 durch eine völlig neue (s. S. 29) ersetzt.
18) Diese Dinge (wie im übrigen zahlreiche Details zur ganzen Entstehungsgeschichte der Hellen Nächte) kann man in der Transkription eines von Sahl stammenden Rundfunk-Features mit dem Titel Die hellen Nächte. Chronik eines Buches nachlesen, die sich unter seinen Marbacher Nachlaß-Papieren befindet. Die Sendung wurde im Juli 1954 sowohl vom Nordwestdeutschen Rundfunk als auch vom Sender Freies Berlin ausgestrahlt.
19) Das wiederum hätte dann selbstverständlich nach sich gezogen, was üblich bei der Edition von Texten ist und hier allem Anschein nach nicht getan wurde: daß man die Gedichte nicht nach dem Wortlaut eines postumen Neudrucks (in diesem Falle der Zeitschrift „Juni“) wiedergibt, sondern an die Quellen zurückgeht, sprich: auf den Erstdruck, und sei es nur, um die beiden Versionen noch einmal miteinander abzugleichen.
20) Weshalb etwa Dichte mich (S. 238) diese Abteilung beschließt; folgt man den Quellennachweisen ist dieser Zweizeiler nach einer Ausgabe des zweiten Bandes der literarisierten Erinnerungen Sahls, Das Exil im Exil, aus dem jahre 2008 nachgedruckt; er steht aber im ersten Band der Memoiren eines Moralisten, und der erschien bereits 1983 im Zürcher Ammann-Verlag (vgl. Gesammelte Werke [V], a.a.O., S. 43).
21) Vgl. Berthold Viertel, Fürchte dich nicht! Neue Gedichte, New York 1941, und Max Hermann-Neisse, Letzte Gedichte. Aus dem Nachlaß hrsg. von Leni Herrmann. London, New York 1941.
22) Vgl. Das Exil im Exil. (Memoiren eines Moralisten II.) Frankfurt a.M. 1990 < Veröffentlichungen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt ; 63 >, S. 108 f.
23) Die 1941 bei der New Yorker Spiral Press hergestellt wurden und u.a. zwei Vorabdrucke der Anthologie enthielten. Kaum anzunehmen, daß ihre Versionen bei der Edition des hier besprochenen Bandes zu Rate gezogen wurden, weshalb denn auch dieses Dokument nichts in den Quellennachweisen zu suchen hat (s. S. 313).
24) Brief an Hubertus Prinz zu Löwenstein, 17.10.1941; unveröffentlichtes Schreiben, masch., 1 Bl., 1 S.; Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Prinz zu Löwenstein.
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