Geraubte Geschichte(n) oder es gibt nie genug Erinnerung
Die Verlegerin Monika Sznajderman ist eine Nachgeborene einer in der Linie des Vaters zum größten Teil ermordeten, jüdisch-polnischen Familie. Was blieb nach der Shoah? Es blieben Sätze derjenigen, die industriell organisierte Auslöschung und das eigene, schützende Verschweigen überwinden konnten und es blieben aus der Zeit vor der Verfolgung Fotos, Dokumente der Normalität, Zeugnisse bürgerlichen Lebens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Fotos naher und nächster Angehöriger der Autorin Monika Sznajderman gelangten mit den vor der drohenden Auslöschung Geflohenen in die USA und nach dem Krieg, nach dem Ende des Kalten Krieges und des polnischen, staatssozialistischen Regimes wieder zurück nach Polen. Die Empfängerin begab sich dann auf den mühsamen Weg zu recherchieren, wer die abgebildeten Personen waren und wo und wie sie lebten. Sie fordert das Recht der nur noch auf den Fotos Existenten ein, einen Teil der Familiengeschichte und damit der persönlichen Vorgeschichte der Autorin zu bilden. Ihnen dieses Recht zu gewähren, ist aber, wie man sich leicht wird denken können, nur sehr unvollkommen möglich, die nicht vorhandene Erinnerung lässt sich nicht ersetzen, die Angaben bleiben blass, es ergeben sich keine ausgefeilten Geschichten, die, wie man weiß, in den meisten Familien einen Grad der Verwicklung erreichen, der sich gar nicht rekonstruieren lässt.
Die Schwierigkeit, vergangenes Leben wieder in Form der Erzählung lebendig werden zu lassen, besteht auch in dem Schweigen der Überlebenden:
Mein Vater (schreibt Monika Sznajderman) gehört zu jenen, die schweigen. Dieses Schweigen ist übermächtig, abgrundtief, man kann darin ertrinken. Deshalb habe ich begonnen, zu erinnern. Gegen dieses Schweigen, gegen das Vergessen, gegen das Nichts, das alles verschlingen möchte. (S.92)
So bleibt nur der Versuch, aus einigen Schwarzweiß-Fotografien und wenigen archivalischen Dokumenten eine Familiengeschichte zu formen, die in das 19. Jahrhundert und weiter zurück reicht. Das Unterfangen gelingt dann am besten, wenn die Autorin einzelne historische Figuren selbst sprechen lässt, so z. B. Eliasz:
„Ich heiße Elias Snyder. Ich wurde in Radom in Polen als Eliasz Sznajderman geboren. Mein Vater hieß Majer Ajzyk, meine Mutter hieß Estera Małka. […] Als der Krieg ausbrach, begann eine besonders schwere Zeit für junge Leute, die in der Nacht zusammengetrieben und zu körperlicher Arbeit gezwungen wurden. Doch die Deutschen waren nicht imstande zu sagen, wer Jude und wer Pole ist, weil sie die Juden nur erkannten, wenn sie einen schwarzen Kaftan trugen. Die Mehrheit der Juden erkannten sie nicht, weshalb ihnen Polen dabei helfen mussten – sie begleiteten die Deutschen und zeigten mit dem Finger To jest Żyd! Das ist ein Jude!. Jude war das erste Wort, das sie auf Deutsch lernten.“ ( S. 109)
Der aufscheinende polnische Antisemitismus in den 1930er Jahren, der zu Gleichgültigkeit gegenüber den jüdischen Schicksalen während der deutschen Okkupation und auch zu polnischen Pogromen gegen die Minorität der Juden führte, ist ein historischer Umstand, der ohne Ausweichen dargestellt wird und die gegenwärtigen Versuche der nationalistischen PIS entlarvt, geschichtsrevisionistisch diesen Zug der jüngeren Geschichte Polens zu verwischen.
Der Vater der Autorin Marek Sznajderman kommt als Junge in das Konzentrationslager Majdanek, später nach Auschwitz. In Majdanek erlebt er die erste Selektion, die er 1945 nach seiner Rettung beschreibt.
Sicher weiß man, was Selektion bedeutet, hat auch andere Beschreibungen gelesen. Mich, der ich weniger als ein Jahrzehnt nach dem Verlöschen der Öfen in Auschwitz geboren bin, schaudert es bis heute, das Wort Selektion von viel Jüngeren in ökonomischen oder trivialen Kontexten verwendet zu hören, da es mich an den einschneidenden Schock gemahnt, den ich als 16jähriger empfand, als ich nach der Befreiung aufgenommene Filme von Auschwitz sah. Zu jener Zeit herrschte noch jenes kollektive Schweigen, allerdings das der Tätergeneration, ein Schweigen, das die Autorin auch bei den Opfern konstatiert.
Das Erschrecken vor der Shoah ist eine der Grundlagen unserer Demokratie, des politischen Handelns insgesamt, der Verankerung in der europäischen Union mit dem Ziel, den Nationalstaat zu überwinden. Aus der Reaktion auf den Zivilisationsbruch entstand unsere freiheitliche Verfassung. Anstelle der „Mördergrube“ (Hans Magnus Enzensberger in Landessprache) wurde ein freiheitliches, der Humanität verpflichtetes Land begründet. Da zur Zeit um die 15% der deutschen Wahlbürger eine Partei zu wählen bereit sind, in der es möglich ist, die staatlich organisierte und mehrheitlich gebilligte Barbarei des Nationalsozialismus als „Vogelschiss“ zu bezeichnen, also versucht wird, eine Revision des Geschichtsbildes durchzusetzen, ist es notwendig, die Auswirkungen der deutschen Barbarei auf der Ebene der Individuen immer wieder von Neuem kennenzulernen, damit nichts in den Orkus des Vergessens versinkt und die Gefahr eines wiederholten Zivilisationsbruches nicht mehr auszuschließen ist.
Dann wurden wir in einer langen Reihe aufgestellt und mussten einer nach dem anderen einen schmalen Korridor passieren, der auf der gegenüberliegenden Seite zwei Ausgänge hatte. Auf der linken Seite sah ich irgendwelche Duschen, […] Doch zur selben Zeit beobachtete ich, dass sie nicht alle durchließen. Ein an der Tür stehender höherer Offizier lenkt einige mit einer gleichgültigen, beinahe unmerklichen Handbewegung nach rechts. Ich schaue genauer hin. Da kommt Doktor Hajman, groß, hager, sehr knochig. Der Offizier schaut eine Weile, dann deutet er nach rechts. Dann kommt Lipmann, mit schiefen Hüften. Sofort nach rechts. Jetzt begriff ich. Dieser Offizier war der Lagerarzt, und wir wurden einer Selektion unterzogen. (S. 123)
Über Auschwitz erzählte und schrieb der Vater nichts. Seine Tochter berichtet aber folgenden denkwürdigen Satz:
Ein Mensch, der in normalen Verhältnissen lebt, ist nicht imstande, das zu begreifen. (S. 129)
Es ist wichtig festzustellen, dass die Autorin keineswegs in Anklagen gegen die Deutschen als Täter verfällt, es handelt sich um einen dokumentarischen, kühlen Text, der gerade aus dieser Eigenschaft heraus eine starke Wirkung erzeugt. Besonders eindrucksvoll ist für mich als deutscher Leser, dass Monika Sznajderman mit der genannten kühl beschreibenden Erzählhaltung über den bereits in der Vorkriegszeit in der polnischen Gesellschaft vorhandenen Antisemitismus schreibt:
Für viele, wenn nicht die Mehrheit der Polen existierten ihre jüdischen Nachbarn durch Jahrhunderte ausschließlich als Bezugspunkte für ihre eigenen, polnischen Ansichten und Gefühle: ausnahmsweise und bestenfalls als ein wertvoller Bestandteil ihrer persönlichen Welt, in den meisten Fällen jedoch als düsteres Objekt von Neid und Hass, als sündige Projektion des Abscheus und der Begierde, als wirtschaftliches Problem und als politische Frage, die erledigt werden musste, als, kurz gesagt, Emanation unüberwindlicher Fremdheit, aber nicht als wahrhaftige menschliche Wesen aus Fleisch und Blut. (S. 215)
Die mütterliche Linie der Autorin hat ihren Ort im polnischen Landadel, von dessen Vorkriegsleben im Wohlstand auf reizvollen Landgütern man ein fundiertes Bild erhält, ohne dass die Autorin bei aller Philanthropie dieser sozialen Schicht die überwiegende Gleichgültigkeit gegenüber der Shoah unerwähnt ließe:
Die sporadischen Bemerkungen über die Auslöschung der jüdischen Nation erregten nur deshalb Ängste und Schrecken, weil man sie als Präludium für die – wie man befürchtete – unausweichlich folgende Auslöschung der polnischen Bevölkerung ansah. Wie ein Mantra wurde die Vorhersage wiederholt, dass >nach den Juden wir an der Reihe sein werden<: Auch die katholische Kirche appellierte an den Papst, die verfolgten Katholiken zu beschützen – aber nicht ihre jüdischen Brüder. (S. 204)
Die Sprache der Übersetzung von Martin Pollak ist kühl zurückhaltend und gut lesbar, da ich aber kein Polnisch beherrsche, kann ich über Äquivalenzfragen nichts aussagen.
Wer unsere Nachbarn vor dem Hintergrund einer traumatisierenden Zeitgeschichte genauer kennenlernen möchte, sollte das Buch unbedingt lesen.
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