Poetische Quellen 2019 „Die Lesbarkeit der Welt“
Das Internationale Kulturfest „Poetische Quellen“, das dieses Jahr bereits zum 18. Mal auf dem Gelände der Naturbühne in Bad Oeynhausen veranstaltet wurde, stand in Anlehnung eines Buchtitels des Philosophen Hans Blumenberg unter dem Motto: „Die Lesbarkeit der Welt“. Was aber macht die Welt lesbar, wenn nicht unsere Offenheit für das, was geschieht und unser Mut, selbst Stellung zu beziehen? In diesem Sinne waren die Veranstaltungen, die ich am Sonntag, dem letzten Tag der Poetischen Quellen, besuchen durfte, sowohl aufschlussreich als auch inspirierend.
Zunächst das Tischgespräch „Wie halten wir es mit Europa?“ mit Janne Teller, Géraldine Schwarz und Thomas Schmid unter der Moderation von Jürgen Keimer.
Janne Teller bezeichnet Europa in ihrem Buch „Europa. Alles was dir fehlt“, als „[…] eine Geburtstagstorte.“ Schön und süß, aber ohne jeglichen Nährwert. Géraldine Schwarz machte bei ihren Recherchen zu „Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin“, die Erfahrung, dass es kein französisches Äquivalent für die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ gibt, während Thomas Schmid erwähnt, dass der Brexit nicht wie befürchtet, eine Austrittswelle nach sich zog. Die europäische Union scheint stabiler und konfliktfähiger zu sein, als vermutet.
Problematisch erscheint den Gesprächsteilnehmern das geringe Interesse für Osteuropa. So wurde Polen nicht in die Entscheidungen beim Minsker Vertrag einbezogen, obwohl hier Bedingungen verhandelt wurden, die insbesondere dieses Land als direkten Nachbarn der Ukraine betrafen. Auch ist bislang versäumt worden, nach den Gründen zu forschen, warum Polen und Ungarn sich so vehement gegen eine Aufnahme von Flüchtlingen sperren.
Insgesamt weiß man in der europäischen Union zu wenig über die kulturellen Unterschiede der Mitgliedsstaaten, ein Nichtwissen, das immer wieder zu Missverständnissen führt, und es Populisten erleichtert, den „Opfer-Mythos“ der jeweiligen Nation für ihre Zwecke auszunutzen. Denn die Diskurse und Debatten sind nach wie vor national.
Dabei spielt der öffentliche Diskurs eine bedeutende Rolle. Janne Teller weist darauf hin, dass in Dänemark, das sich bezüglich der Flüchtlingsproblematik zunehmend abschottet, moralische Argumente nicht länger überzeugen, woraufhin Schwarz bemerkt, dass eine Umwertung der Werte stattgefunden hat. Fake News und widersprüchliche Fakten haben zu einer dermaßen hohen Verunsicherung der Bürger geführt, dass schließlich jeglicher Glaube erschüttert ist.
Thomas Schmid plädiert dafür, statt an einer „europäischen Identität“ festzuhalten, die Kooperation unter den Mitgliedsstaaten zu fördern, um so den nationalistischen Narrativen den Boden zu entziehen, denn der Kernpunkt der europäischen Union ist die Vielfalt, der Versuch der Abgrenzung den Gedanken der Solidarität entgegen zu setzen.
Ulrike Draesner im Gespräch mit Jürgen Keimer
Grenzüberschreitungen und Grenzerfahrungen liegen auch Ulrike Draesners gerade erschienenem Roman „Kanalschwimmer“ zu Grunde. Bereits um die Jahrtausendwende habe sie die Idee gehabt, Prosatexte zu den vier Elementen zu schreiben, erzählt Draesner im Gespräch mit Jürgen Keimer. 2010 erschien „Vorliebe“, der Roman, der sich dem Element Luft angenommen hat. Mit „Kanalschwimmer“ hat sich Draesner nun dem Wasser gewidmet, wobei ihr wichtig ist, dass ihre Prosa auch formal dem Element folgt, und Wellenstrukturen aufweist. „Kanalschwimmer ist ein Buch über den Wunsch, gefüttert und gerettet zu werden. Über Wut, Hingabe und Verantwortung. Über einen Mann in seinem Meer, ohne Fisch. Mit Quallen, Drohnen, Müll – und einem Ziel“, so die Autorin selbst über ihren Roman, der mit einer Verunsicherung beginnt. Charles, 62 Jahre alt, Naturwissenschaftler, 40 Jahre lang mit der Musikerin Maude verheiratet, wird mit dem Wunsch seiner Frau konfrontiert, in Zukunft zu Dritt miteinander zu leben.
Mit dem Kanalschwimmen erfüllt er sich nicht nur einen alten Traum, sondern erhofft durch dieses Experiment, in dessen Mittelpunkt er selbst steht, eine Lösung für sein konkretes Beziehungsproblem zu finden. Tatsächlich erfährt er, statt einfache Lösungen zu erhalten, wie es ist, wenn der Körper beginnt sich selbst zu verspeisen, und erlangt zu der Erkenntnis, dass das „Glas halbvoll mit Leere“ ist.
Recherchiert habe sie, so Draesner, zunächst im Internet, um das Ganze abzurunden und wirklich stimmig zu machen, habe sie aber abschließend auch lange Gespräche mit Kanalschwimmern und besonders mit den bei diesem Unternehmen überaus wichtigen Pilots, die im Begleitboot die Sicherheit der Schwimmer gewährleisten, geführt.
Bei diesem Schwimmmarathon über 24 Stunden, ohne jegliche Pause, im eiskalten Wasser, den Körper nur mit Vaseline geschützt, begegnet Charles der Metaphysik und erfährt schließlich sogar Erlösung, in einer Welt, in der alles auf Lösungen ausgerichtet ist. Es geht Draesner um die Verschiebung von Wahrnehmungen, um Grenzen, Vertrauen und Musik.
Sie betont die Ähnlichkeit des von Charles durchgeführten Marathons mit dem Romanschreiben. Man gerät in eine Strömung, treibt ab, wird süchtig.
Und lernt, nicht zuletzt, etwas über sich selbst.
Marica Bodrozic im Gespräch mit Jürgen Keimer
Die Durchquerung des eigenen Ichs als genuin widerständigen Akt liegt den bei Matthes & Seitz erschienen Essays „Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe“ von Marica Bodrozic zu Grunde.
Sie ist vielleicht von allen Schriftstellerinnen, die ich an diesem Tag erleben durfte, am nächsten an dem dem Programmheft vorangestellten Zitat von Agnes Heller: „Ich hingegen habe bis zum heutigen Tag das Gefühl, dass es sich lohnt, seine Meinung zu sagen, sogar wenn niemand zuhört.“
Eine Schriftstellerin ist für Bodrozic ein Mensch, der schreibt, unabhängig davon, wie viele Leser das Geschriebene findet. Ohnehin gab es bei ihr nicht den Wunsch Schriftstellerin zu werden, es war vielmehr ihr Leben, ihr Schicksal, dass ihr das Schreiben als unbedingte Notwendigkeit offenbarte.
Eine Notwendigkeit, die sich nun gegen die an eine Formulierung Dostojewskis angelehnten „gußeisernen Begriffe“ richtet. Bodrozic versteht darunter Gebrauchsbegriffe, die nicht länger mit Leben gefüllt sind. Wir alle, so Bodrozic, sprechen immer häufiger ohne zu fühlen, was wir sagen, die somit entleerten Worte kippen unversehens in Lügen, womit ein Kreis geschlossen wird zu den nationalen Narrativen, die im Tischgespräch erwähnt wurden, und die es Populisten ermöglichen ihr Publikum zu blenden. Bodrozic plädiert für Offenheit statt Sicherheit. Literatur erzählt für sie immer auch von den Reisen durch und in sich selbst, und gewährleistet so die Rückkehr von den Irrwegen und Lügen zurück zur eigenen Wahrheit.
Wenn wir einsehen, dass wir einerseits unsere Verantwortung an niemanden abgeben können, und andererseits weder mehr noch weniger wert sind als all unsere Mitmenschen, mit denen wir aller oberflächlichen Unterschiedlichkeit zum Trotz, verbunden sind, ergibt sich eine Haltung, die Bodrozic „poetische Vernunft“ nennt, eine Vernunft, über die wir alle verfügen. Und ihr Buch ist eine einzige Ermunterung sich dieser Vernunft zu bedienen.
Letztendlich kommt es, ob es um die europäische Gemeinschaft, um die Liebe, oder das Leben allgemein geht, auf jeden einzelnen von uns an. Wir schreiben die Welt, indem wir sie lesen. Und umgekehrt.
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alle Fotos: Elke Engelhardt
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