Im Herzen meines Herzens
Er steht unter dem kleinsten, sieht, von hinten tief in all ihre Brustkästen hinein. Gehalten von unsichtbaren Drähten, schweben die fünf Walskelette unter der Decke, als wollten sie, der Größe nach geordnet, einander durch die Lüfte verfolgen. Kopf an Schwanz jagen sie dahin, die knöcherne Spur eines unsichtbaren Plans. Ein wenig scheint in der vom Boden aufsteigenden Körperwärme der Besucher der gelbbeige, wie eine Stimmgabel gebogene Unterkiefer des mittleren zu vibrieren. Charles möchte meinen, selbst halb Gespenst, verborgen, vom Grund eines eisigen Ozeans den geheimen Flug einiger Meergeister zu beobachten; für selige Sekunden glaubt er, in der Kristallklarheit des Mittagslichtes ihre Stimmen zu hören: Mit ihren langen, scharfen Knochenmäulern schneiden die Wale durch den luftigen Ozean der Zeit und singen mit dem Blut in ihren Lungen davon, was es heißt, nicht der zu sein, der man scheint.
Dies ist eine einstiegliche Passage aus Ulrike Draesners neuem Roman Kanalschwimmer, der diszipliniert und durchdacht seinem alternden Protagonisten Charles bei einer zweiteilig ablaufenden Reise folgt. Die aktuelle Reise ist die aktive Kanalüberquerung, also das Durchschwimmen des Ärmelkanals, ein so gefahrvoller wie offensichtlich permanent unternommener Extremsport bzw. Körperhärtetest, in Begleitung eines Bootes. Dieser Handlungsstrang ist der gelungenere. Hier greift Draesner auf alle Mittel einer packenden Schilderung von Körpern in Natur zurück. Lyrisch, verspielt, voller Farben und sinnlicher Erfahrungen. Und Charles' athletische Leistung zu verfolgen ist mitreißend: Natürlich hofft man, dass er es schafft und alle odysseischen Prüfungen, von Strömung, treibendem Müll, Krämpfen und Wahnbildern wie in die Tiefe führende Bootsleitern, besteht.
Die zweite Reise ist eine Zeitreise. Charles völlig misslungene Ehe, die sich als ein Quartett von Schwestern und Freundschaften, einander in Wahlverwandtschaft, Schuld, Tod und überraschenden Spätfolgen verhaftet, äußert. Allerdings nur in Charles Kopf, in einem stakkato-kurzen Bröckchenstil, dem zu folgen nicht halb so viel Aufmerksamkeit erzeugt wie dem Schwimmerteil. Die finiten Techtelbausteine sind derart skizzenhaft unauserzählt, dass man schon außerordentliche Sympathie mit dem recht einfältigen Biochemiker Charles aufbringen muss, um hier empathisches Mitgehen oder gar Erwartungen (an seine Gedanken) aufbauen zu können. Etwas blutleer mitgeteilt, und auch fast unengagiert zugesteckt wie ein ich-muss-ja, wohingegen jene fesselnde Ideenwelt des Kanalüberquerens eine zusätzliche, verblüffende Aktualität birgt, die im Endeffekt auch die größte "klimatische" Tragweite des Romans im Fahrwasser führt. Das kurze Austrittsszenario-Wort mit sechs Buchstaben sei hier nicht noch einmal filetiert.
Vermutlich durch einen Tsunami um 6200 vor Christus versenkt. Davor hatten die Britischen Inseln sichtbar am Kontinent gehangen; trockenen Fußes waren Tiere und Menschen hin- und hergewandert. Viele Jahrhunderte der Trauer musste es gegeben haben, als der ansteigende Meeresspiegel das Zuhause zwischen East Anglia, den Niederlanden und Norddeutschland in einen Archipel verwandelte.
Der Wal Charles, der mit Extremsport und Ich-Fixierung der Ehekrise begegnet, sie sozusagen in den Ärmelkanal projiziert, um sie zu meistern, dabei aber außer "streams" im Prinzip nichts freisetzt oder gewinnt, mit denen letztlich die LeserInnen konfrontiert werden, ist möglicherweise symptomatisch. Für was genau, bleibt auch und richtigerweise ungeklärt, dennoch schwimmt hier nicht bloß ein Wille an Land, hier flieht ein ganzes Bewusstsein, sich Aufgaben zu stellen, sich Vergangenheiten und Konsequenzen implizit verantwortlich zu zeigen. Das ist das Verstörende an Charles und dass seine "Naturerfahrung" aus Plastikmüll, Drohnen und den maximal 20 zugewiesenen Schiffbrüchigen-Minuten an Frankreichs Stränden besteht. Ade See-Partie!
Zwischen den Wellen wuchsen Knödel aus der Dunkelheit. Die Schwärze, aus der sie sich ballten, trieb sowohl im Wasser als auch knapp darüber. Sie floss in Ästchen und Adern, die in dem Augenblick entstanden, in dem die Finsternis in sie eindrang. Auf dieselbe Weise wuchs ein Herz in fötalem Gewebe durch einströmendes Blut, das sich selbst seine zukünftigen Wege baute. Von unten breiteten die Aderbäumchen sich über die Wasserhügel, legten sich flach auf deren Häute und sprangen, wenn die Wölbung im höchsten Stand kippte, senkrecht nach oben davon. Mehr und mehr feine Gewebe aus Finsternis torkelten bojengleich auf dem Kanal. Sie umspülten Charles' Kopf bei jedem Atemzug.
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