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Kritik

Gretchenfrage, ontologisch.

Hamburg

Der Dichter Christian Lehnert erhält 2012 den mit 20.000 Euro dotierten Hölty-Preis. Mit dem höchstdotierten Lyrikpreis im deutschsprachigen Raum solle das Gesamtwerk Lehnerts gewürdigt werden, teilten Stadt und Sparkasse Hannover am 17. April 2012 mit.

Die Gedichte des 42-Jährigen strahlten "selten gewordene Würde und Schönheit aus", heißt es in der Begründung der Jury. Die Auszeichnung ist nach dem in der Nähe von Hannover geborenen Dichter Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748-1776) benannt und wird 2012 nach 2008 und 2010 zum dritten Mal vergeben.
(Quelle: 3 sat)

Das Gedicht  Nur zwei Dinge (1953) des Ungläubigen Gottfried Benn gehört seit jeher zu meinen Favoriten, und besonders die letzte Strophe: Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere / was alles erblühte, verblich / es gibt nur zwei Dinge: die Leere / und das gezeichnete Ich raune ich ab und an, wenn ich meine melancholischen Anwandlungen habe, gerne vor mich hin. Nun finde ich ausgerechnet einen ähnlichen Ton, sogar ein ähnliches Interieur und die ewige Frage: wozu? in Christian Lehnerts neuem, im Suhrkamp Verlag erschienenen Gedichtsband „Aufkommender Atem“ wieder.  Dabei handelt es sich um vierundsechzig größtenteils achtzeilige, sehr formbewusste, in Kreuz- und Parallelreimen verfasste, theologisch-existentielle Meditationen, zyklisch eingepasst in ein Jahr, wobei jedes einzelne der Gedichte datiert ist, angefangen am 30. November 2008 (Und was ich glaubte, ist ganz unverstanden) bis zum 25. Dezember 2009 (Geburt des Dunkels, wie ein Mottenkind), eingerahmt von vier Gedichten , die den Prolog „Jahrein“ bilden, sowie, zum Abschluss, einer Textgruppe mit dem Titel „Trost (Moments musicaux)“.  

Die Gedichte, von kargem und sakralem Charakter, kreisen ontologisch in Naturbildern um die Gretchenfrage und kämpfen sich pointiert zu Gott vor, bisweilen trotzig: an blanken Rohren wärm ich mir die Hände / und male Gott an jede leere Wand (S. 22), bisweilen zweifelnd: Die Sätze bleiben in mir hängen / in einem Schacht, dort hab ich mich verkrochen / daß Gott als Halt zu denken doch gelänge (S. 50). Einige der Texte, wie Du bist der Wald, der Tiefdruckhimmel, tropfst, könnten sogar Eins zu Eins als modernes Gebet durchgehen. Doch ist es etwas anderes, was mir an den Gedichten eigentlich gefallen sollte – der Mensch als das „nicht festgestellte Tier“, um Flüsse (Havel, Elbe), Gebirge (Erzgebirge), Städte (Wittenberg) und Inseln (Lanzarote) ziehend, sein hermetisches Dasein vermessend: Ich danke all den Steinen und der Asche / daß sie sich wehrten gegen meine Hände / Sie folgten mir und bauten um mich Wände / wo ich nun stehe und die Teller wasche (S.32); dieses sich in die Leere, in das Rauschen und in die Stille begeben, wo man seinem Atem wieder zu lauschen vermag, seinen Atem wieder finden oder über die „Atemnot“ reflektieren kann. Natürlich steht aber der Atem immer symbolisch für Gottesnähe, der Atemstillstand, also der GAU, ist demzufolge Golgatha: Zu verstehen / blieb nur das Datum und die Flucht der Tage / bis in den Atemstillstand, Golgatha / Der Heimweg war von Anfang an so nah. (S. 77), und aufkommen kann der Atem nur durch die Extrahierung des Ichs aus urbaner, überzivilisierter Gegenwart - deren seelenloses Inventar bei Lehnert folglich nur am Rande auftaucht (Flugzeuge, Bildschirmzeilen, Kabelrollen) - in das, was kreatürlich dagegen hält: Steine, Bäume, Erdreich, Füchse, Fledermäuse, Walnüsse, Katzen, Schnee, Bruchsteinwände, Sand, Wellen, Gletscher, Schnecken, Krebse und jede Menge Vogelarten.

Doch warum berühren mich die Gedichte so wenig? Weil sie sich reimen? Weil ihnen etwas Altbackenes anhaftet? Bei Benn wird auch gereimt. Zudem wirkt die Reimtechnik Lehnerts nicht einmal aufgesetzt, sondern eher sinnstiftend, weil sie dem Isolierten ein Gerüst gibt; die Reime wirken klammernd in dieser seiner befürchteten, aus der Welt bröckelnden Gottesimmanenz, in der sich der Autor gegenüber der ihn ausgrenzenden, fremd und dunkel anmutenden Natur empfindet, und sind deshalb keinesfalls nur bloße Form, sondern auch Aussage. Und auch die Rolle des Dichters als Kleriker, als „Gottsuchender“ stört mich nicht so arg. Denn dem Theologen Lehnert gelingt es ja, wie schon Michael Braun in der Neuen Zürcher Zeitung konstatiert, „einen Gott, der durch Abwesenheit, Ortlosigkeit oder Unbestimmbarkeit charakterisiert ist“ zu etablieren. Demzufolge handelt es sich bei der Lektüre also weniger um christlich-dogmatische Erbauungslyrik, sondern Lehnert geht es – sehr bescheiden, sehr desillusioniert - eher um seine postmetaphysische Identitätsfindung.  

Nein, das Irritierende für mich ist das Schauspielartige. Man wird das Gefühl nicht los, dass sich ein 1969 geborener Gegenwartslyriker einen Lyriker wie eine Romanfigur erfindet, welcher dann gleich Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ eremitisch in der weiten, rauschenden Landschaft steht, als gäbe es keine sieben Milliarden Menschen, keine Vernetzung, keine Globalisierung, keine Fernseher, keine Flughäfen, keine Discounter, keinen Sex und kein Fußballspiel.  Die Ausklammerung der realen Welt mit all ihren Begrifflichkeiten wird in einem Maße überstrapaziert, dass einem nur wenig Raum zur Identifikation bleibt. Man assoziiert ständig einen Klausner in stachliger Kutte, barfuß, nach Beeren suchend. Selbstredend geht es bei Aufkommender Atem um die Kultivierung einer Ausnahmesituation, um die (Re-) Mystifizierung des Individuums im Glauben, doch bergen die Gedichte konzeptionell eine mitunter ärgerliche Realitätsferne, beinahe einen aufkommenden Eskapismus, beispielsweise, wenn Lehnert für den Sommer die chronologisch dem Jahreslauf folgenden Gedichte nach Lanzarote verlagert, um die Kulisse für seinen tragischen Gegenstand weiterhin aufrecht erhalten zu können:  Der schwarze Sand verrinnt.  Die schwarzen Burgen / am Wasser, schwarze Steinchen auf der Haut: / Weißt du, wie lang es ist bis zum Erwachen? (S.54), Ein schwarzer Strudel, dessen Maß noch fehlt / folgte der menschenhohen Lavawelle (S. 56).

In diesem Sinne spricht auch die Umschlagabbildung Auferstehung, eine Radierung des 1968 (sic!) geborenen Künstlers Michael Triegel, der in der Manier alter Meister, besonders der späten Renaissance tätig ist, für sich.  Ich kann feststellen, dass ich die Gedichte des Pfarrers Christian Lehnert  nicht unbedingt für das schätze, was sie sind, sondern eher für das, was sie – für einen exkursiven, nostalgischen Novembernachmittag mit meiner Katze und einem Kaffee - innerhalb der heutigen Lyrik, aber nur ausnahmsweise, auch mal nicht sind. Aber wer es tatsächlich vermag, sich mit dieser Poesie nachhaltig zu identifizieren, der hat ein Luxusproblem.

Christian Lehnert
Aufkommender Atem
Suhrkamp
2011 · 99 Seiten · 17,90 Euro
ISBN:
978-3-518422731

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