Ein Aussätziger in der Stadt
Auf die eine oder andere Weise
gleichen sich unsere Erinnerungen. Meine geht auf
einen Abend vor nicht allzu langer Zeit zurück,
als irgendein Vulkan oder ausströmendes Gift
den Himmel und die Bürgersteige grün färbte
und meine krankhaft entzündete Haut
weniger auffällig erscheinen ließ. Oder vielleicht
war es einfach nur so, dass die Leute, die sich normalerweise
über meinen Anblick beschweren, endlich genauer
hinschauten
und erkannten, dass meine Haut zum Entwurf einer Nacht
geeignet war. Ich strich durch die Straßen,
und wo immer ich auch hinkam, hatte irgendjemand
eine amüsante oder liebende Verwendung für das Grün –
eine Frau glitt in gelbgrünen Turnschuhen dahin,
ein Baby nuckelte an Limetten. Niemand gab
das Geheimnis leichtfertig preis, indem man mich auf
die Schulter
genommen und „Hoch lebe der Aussätzige“ gerufen hätte.
Das wäre zu weit gegangen. Doch ich war stolz
und hielt meinen Kopf so hoch, dass ich meinte,
die grünen Wolken
jederzeit berühren zu können. Unbedachterweise glaubte ich,
am nächsten Tag werde es wieder so sein,
doch als ich mich in einer Schaufensterscheibe erblickte,
wurde mir klar, dass ich derselbe alte, grüne alte
Schandfleck war.
Gesichter gingen auf Abstand zu mir
und verzogen sich erschrocken oder erleichtert;
Touristen hielten ihre Kameras geschultert
bis die Sicht frei war. Ich war so grün
wie je, doch der Schimmer war verschwunden
und hatte eine grobe, entzündete Haut zurückgelassen,
die Farbe von kranken Blättern, ein Anblick, der die
ganze Stadt erschaudern ließ. Eitelkeit ist
eine derart unsympathische Eigenschaft, dass ich
diese ganze Geschichte mit einem Anflug von
Scham erzähle –
schlichtere Gemüter würden sagen, na und,
wenn du eben von deinen rohen Wunden und gemischten
Gefühle heimgesucht wirst?
Die Stadt ist immer dieselbe, und du tätest gut daran,
aus der Ruhe eine Tugend machen
und ihr auf ihre eigene, gesunde Weise gerecht werden. Doch
aus dem Haus zu gehen, und weil alles so schön friedlich ist
oder du in dich selbst starrst, keinen Schritt mehr tun zu können
ohne überall grün zu sehen, ist ein kaum zu überbietendes
Nervenkitzel; deine Schönheit ist ihre Schönheit,
deine Farbigkeit willkommener Klatsch für die Nachbarschaft.
War das ein Witz? Habe ich mir das alles nur zusammen
phantasiert? Es war nicht so, als ob ich
auf einem eigens für mich gefertigten Hochhaus stünde
und den Mengen den Befehl erteilte, mich befehlen zu lassen,
oder mich zu erschießen; es war eher wie ein
zärtliches Geheimnis, das die ganze Stadt mit bedeutungsvollen
Blicken
zusammenhielt, die etwa zu sagen schienen, wir stecken alle
unter einer Decke.
Heute Abend steht es schlimm um meine Ekzeme. Ich weiß nie,
wann die Haut anfangen wird aufzuplatzen
und muss also beim Händeschütteln Obacht geben,
dass ich sie heile zurückbekomme. Tücke und Spott ist
in meinem Blick, selbst wenn ich freundlich bin.
Heute Abend ist ein Spaziergang nicht mehr das Großereignis
von gestern - denn von einer solchen Nacht
träumt ein Aussätziger und malt sie sich wieder und wieder aus –
sondern nur
eine Weise, von einem Krankenlager ins nächste zu gelangen.
In einem schlecht sitzenden Umhang
durch eine ärmliche Straße ins Lazarett schleichend,
bin ich mein schlimmster Alptraum,
zu sonderbar für das Mitleid, zu grün für die Liebe.
Übersetzung von Stefanie Golisch
Alltägliche Abgründe
In Rachel Wetzsteons Gedichten ist auf beunruhigende Weise Alltag.
Es ist eine spezifisch amerikanische Tradition – die abgründige Mischung zwischen Pragmatismus und Metaphysik - , welche die die mehrfach preisgekrönte Lyrikerin auf ihre unverwechselbare Weise variiert. Ob ihres lakonischen Tons, eines bewussten understatements, ist man unwillkürlich an die Gedichte John Ashberys oder die Kurzgeschichten Raymond Carvers erinnert, in denen die Kollision der alltägliche Ebene des Lebens mit den tiefer liegenden Schichten des Bewusstseins zur ästhetischen Struktur verschmilzt.
Auch Rachel Wetzsteons Interesse gilt in besonderer Weise jenen hellsichtigen Momenten, in denen die harmlose Oberfläche - ein langweiliges Abendessen in einem unscheinbaren Restaurant, Regenschirmwetter, die müßigen Selbstreflexionen einer zwischen Karriere und privater Erfüllung hin - und her gerissenen jungen Frau, ein Jungesellinnenbrunch - plötzlich aufbricht und den Blick auf tiefer liegende Schichten freilegt.
Allerweltsmenschen sind die Protagonisten ihrer bisweilen als Kammerspiele inszenierten Geschichten-Gedichte, oder Außenseiter - ein Klumpfuß, ein Aussätziger - deren unterlegene Perspektive es erst ermöglicht, standarisierte Sichtweisen aufzugeben und die Dinge bei ihrem traurigen Namen zu nennen.
Unter der harmlosen Oberfläche des american way of life, der im Zuge der Globalisierung weitgehend der unsere geworden ist und in dem wir uns deshalb problemlos wieder erkennen, brodelt es.
Die bedrohlich fortschreitende Banalisierung nahezu aller Lebenswelten macht ihre Bewohner zu Gefangenen eines Systems, das sie zu Spielsteinen degradiert, ohne sie in die Spielregeln einzuweihen, nach denen sie zu funktionieren haben. Im Sog so genannter Normalität, einer Beleidigung, derer sie sich nicht erwehren können, sind sie beständig in der Gefahr sich selbst zu entgleiten wie jener Aussätzige, der sich selbst als „zu sonderbar für das Mitleid, zu grün für die Liebe“ empfindet und deshalb weiß, dass es in der Gesellschaft für ihn keinen Platz gibt und er folglich zur Einsamkeit verdammt ist.
Paradoxa, Andeutungen, Schiefes und abgebrochene Gedankengänge machen die reiche Fülle von Wetzsteons Gedichten aus, die darauf angelegt zu sein scheinen, aus Fragmenten unversehrten Lebens die verloren gegangene Ganzheit – zumindest in Ansätzen - zurück zu gewinnen.
Gefangen in der ewigen Zwickmühle von kultivierter Skepsis und archaischem Staunen, Ironie und Ernsthaftigkeit, lässt die Autorin den Menschen sich in der Ausweglosigkeit seines unverminderten Hoffens erkennen.
In der Nacht auf den ersten Weihnachtstag nahm Rachel Wetzsteon sich im vergangenen Jahr in New York das Leben.
Ein noch von der Autorin selbst konzipierter Auswahlband ihrer Gedichte erscheint in Kürze in meiner deutschen Übersetzung.
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