Fünf Treppen hoch
Noch dunkel.
Der unbekannte Vogel sitzt auf seinem üblichen Ast.
Der kleine Hund von nebenan bellt einmal im Schlaf,
fragend, nur einmal.
Vielleicht fragt der Vogel auch in seinem Schlaf
ein- oder zweimal, mit bebender Stimme.
Fragen – wenn‘s denn welche sind – ,
direkt beantwortet, einfach,
vom Tage selbst.
Enormer Morgen, gewichtig, genau;
graues Licht streift jeden nackten Ast,
jeden einzelnen Zweig, an einer Seite entlang,
macht einen anderen Baum aus glasigen Adern . . .
Der Vogel sitzt noch da. Jetzt scheint er zu gähnen.
Der kleine, schwarze Hund läuft auf seinem Hof.
Die Stimme seines Besitzers erhebt sich, streng,
„Du sollst dich schämen!“
Was hat er getan?
Er springt fröhlich auf und ab;
er eilt in Kreisen in den gefallenen Blättern.
Offensichtlich hat er kein Schambewusstsein.
Er und der Vogel wissen, alles ist beantwortet,
alles ist erledigt worden,
kein Grund noch einmal zu fragen.
– Gestern, so leicht ins Heute gebracht!
– (Ein Gestern, das ich fast unmöglich heben kann.)
Übersetzung von Klaus Martens
Farbverlust und enorme Alltäglichkeit
Am 8. Februar wäre Elizabeth Bishop (1911-1979) hundert Jahre alt geworden. Ihr Geburtstag wird weltweit gefeiert. Nicht allein in Grand Village (Neuschottland, Kanada) und Worcester (Massachusetts, USA), den Orten ihrer Kindheit. Auch in Brasilien (Rio de Janeiro, Ouro Prêto, Samambaia), wo sie c. 18 Jahre, mit Unterbrechungen, gelebt hat – ebenso wie in Florida, Haiti, Kalifornien, Washington, in Frankreich und anderswo. Ihrer Internationalität hat sie als Übersetzerin und Essayistin auch zur Kulturvermittlerin gemacht. Bishops Gedichte und Erzählungen – zusammen ein schmales, anspruchsvolles Werk – sind inzwischen in Japan und Deutschland weitgehend übersetzt und vertont (Michiru Oguchi) worden. Bishop, seit 1947 Freundin von Robert Lowell und seit 1935 Marianne Moore, ist schon früh als vorbildliche Lyrikerin anerkannt und gefeiert worden. Sie wurde prägend für jüngere Dichter wie John Ashbery, Howard Moss oder Frank Bidart unter vielen anderen. Ihre Texte erschienen vorzugsweise in Zeitschriften wie The New Yorker und Partisan Review, wo sie lange erwartet und oft überschwenglich begrüßt wurden. Elizabeth Bishops Gedichte gewannen die wichtigsten amerikanischen Literaturpreise - Pulitzer Prize, National Book Award, International Book Critics Circle Award, neben anderen Ehrungen.
Bishops schon früh offen gelebte Homosexualität - auch sie erklärt die vielen und langen Auslandsaufenthalte - hat sie isoliert, aber auch zu einem Vorbild von streitbaren, „Gender orientierten“ Lyrikerinnen wie z.B. Adrienne Rich werden lassen. Bishop selbst sah sich als Dichter in der Folge von Emily Dickinson und Marianne Moore – aber auch der englischen „Metaphysicals“ , von William Wordsworth, John Keats und T.S. Eliot. Sie wollte nicht allein als Dichterin gesehen werden. Es ist wahr, sie gehört in keine politisch opportune Schublade.
Elizabeth Bishops Gedichte sind lakonisch, umgangssprachlich und stellen oftmals Einfaches und Krudes, die unheilige Alltäglichkeit („Du sollst dich schämen!“), in einen traditionell poetisch anmutenden Zusammenhang (der Vogel auf seinem Ast „mit bebender Stimme“). Die Akkuratesse der peniblen Beschreibung („macht einen anderen Baum aus glasigen Adern“). Die kaum ausgesprochenen Analogien zwischen natürlichem und kulturiertem Leben. Das Thema in „Five Flights Up“ ist die Erinnerung, die die natürliche Leichtigkeit des Übergangs von Gestern auf Heute zu einer entsetzlichen Last werden lassen kann und den neuen Tag als ein kaum zu ertragendes, tödliches Doppel, den glasigen Schatten seines Vorgängers und einer ungenannten Toten (vermutlich ihrer langjährigen Geliebten, Lota de Macedo Soares).
Bishop sandte ihr „kurzes, trauriges Gedicht“ Im Dezember 1973 an den New Yorker, wo es wenig später veröffentlicht wurde. Es steht in eine Reihe mit ihren großen, langen, letzten Gedichten. Dazu zählen „The Moose“ und vor allem „Crusoe in England, das ihr Freund Lowell ihre „Ode an die Niedergeschlagenheit“ („Ode to Dejection“ in Anlehnung an S.T. Coleridge und P.B. Shelley) nannte, ganz klar aber ein Gedicht, das mit der Erzählung vom Robinson, seinem Glück mit Freitag auf der Insel und der traurigen Rückkehr nach England eine „Analogie“ (Lowell) zu Bishops Schicksal erkennen lässt. „Five Flights Up“, geschrieben, während Bishop in Harvard mit Lyrikseminaren ihren Lebensunterhalt verdiente, mag die Verzweiflung über den Farbverlust ihres Lebens an ihrem biographischen Ausgangspunkt, Massachusetts, entspringen.
Werke
Elizabeth Bishop, The Complete Poems 1927-1979. New York: Farrar Straus Giroux, 1983.
Elizabeth Bishop, The Complete Prose. New York: Farrar Straus Giroux, 1985.
Elizabeth Bishop, One Art. The Selected Letters. Hg. Robert Giroux. London: Chatto & Windus, 1994.
Elizabeth Bishop, Robert Lowell, „Words in Air“. The Complete Correspondence. Hg. Thomas Travisano, Saskia Hamilton. London: Faber & faber, 2008.
Joelle Bielle, Hg., Elizabeth Bishop and The New Yoker. The Complete Correspondence. New York: Farrar Straus, and Giroux, 2011.
Übersetzungen
Elizabeth Bishop, Alles Meer ein gleitender Marmor. Gedichte, zweisprachig. Herausgegeben, übersetzt und mit einer Einleitung von Klaus Martens. Heidelberg: Mattes Verlag, 2011.
Elizabeth Bishop, „Gedichte.“ Übers. Klaus Martens Akzente 4 (1986). 292-304.
Kritik / Darstellungen
Klaus Martens, „Das Ich des Auges oder die Lust an der Geographie: Elizabeth Bishop.“ Akzente 4 (August 1986) 313-324.
Klaus Martens, "The Moose of It: Ein Gedicht von Elizabeth Bishop in seinen angloamerikanischen Traditionen." Transatlantic Encounters. Studies in European-American Relations. FS for Winfried Herget. Hg. U.J. Hebel, K. Ortseifen. Trier: WVT, 1995. 279-294.
Brett C. Millier, Elizabeth Bishop: Life and the Memory of It. Los Angeles: University of California Press, 1994.
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